Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
lassen, und blickte genauso finster zurück. »Ich werde in die Gemeinschaftsduschräume gehen, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Das ist armselig, aber wir scheinen ja schon so tief gesunken zu sein.« Er griff nach seinem Pyjama und stürmte hinaus.
Ich flüsterte in Lucas’ Ohr: »Ich habe kein Wort davon gesagt, dass ich mit Balthazar duschen will.«
»Ich weiß«, sagte er und warf sich aufs Bett. »Ich vertraue dir. Aber es gefällt mir manchmal, ihm ein bisschen die Hölle heißzumachen. Das macht einfach Spaß.«
»Bist du so weit?«
Er nickte und atmete tief und gleichmäßig, um ruhig genug fürs Einschlafen zu werden. »Ja. Lass es uns versuchen.«
Eine halbe Stunde später schlief Lucas tief und fest, während Balthazar offenbar überhaupt nicht mehr vom Duschen zurückkommen wollte. Ich wartete auf die raschen Bewegungen unter Lucas’ Augenlidern und dicken Wimpern, ehe ich meinen Mut zusammennahm und den langen, tiefen Sprung wagte, der mich, wie ich hoffte, mitten in die Welt seiner Träume bringen würde.
Diese Welt nahm um mich herum Gestalt an. Mein Gefühl der freudigen Erleichterung war jedoch wie weggeblasen, als mir dämmerte, wo wir uns befanden: in dem schäbigen, verlassenen Kino, wo Lucas getötet worden war. Er stand einige Schritte vor mir in der Eingangshalle. Eine Hand umklammerte einen Pflock, die andere hatte er schützend über Mund und Nase gelegt. Ich verstand nicht, warum, bis ich den Rauch roch und begriff, das dieser der Grund für die dichten Wolken um uns herum war.
Von der Leinwand her kam ein warmer Schein, und ich wusste, dass dies kein Film war, sondern ein Feuer.
Ja, das ist ein anderer Albtraum . Jetzt wollen wir mal sehen, ob ich Lucas aufwecken kann.
Bevor ich etwas sagen konnte, knurrte Lucas: »Charity.«
»Hallo, Baby.« Charity löste sich aus den Schatten. Sie sagte nicht Baby, als wäre es eine Koseform wie Liebling oder Süßer , sondern es klang, als spräche sie tatsächlich über einen Säugling oder ein kleines Kind. Der Schein des Feuers tanzte auf ihren hellen Locken. Ihr langes, spitzenbesetztes Kleid war zum ersten Mal sauber – etwas, das offenbar nur in Träumen möglich war. »Wie geht es denn meinem kleinen Baby heute?«
»Lass mich gehen«, sagte Lucas. Seine Stimme schien an den Worten zu ersticken.
»Das könnte ich nicht einmal, wenn ich es wollte.« Charity lächelte triumphierend. »Und ich will es nicht.«
»Lucas«, mischte ich mich ein. »Es ist alles in Ordnung. Sieh sie nicht an. Sie ist nur ein Traum. Schau mich an.«
Aber er blickte nicht zu mir. Ich trat zwischen ihn und Charity und hoffte, so den Bann des Traumes zu brechen, der ihn davon abhielt, mich zu erkennen, aber es änderte sich nichts. Er sah einfach durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht da.
»Suchst du nach Bianca?« Charitys Interesse hätte für jeden echt geklungen, der sie nicht kannte. »Sie könnte vom Feuer eingeschlossen sein. Du musst sie retten.«
Lucas rannte von Charity fort, geradewegs in die Flammen hinein. Als ich herumwirbelte, um ihm nachzulaufen, sagte Charity: »Er gehört jetzt mir, Bianca. Du wirst ihn nie wiedersehen.«
Wie konnte es sein, dass Charity mich sah, während Lucas meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt hatte, wenn sie selbst doch nichts als ein Teil seines Albtraumes war?
Sie sah mir tief in die Augen. Ihr Lächeln veränderte sich. Nun wirkte es weniger, als käme es von einer höhnischen Gegnerin, sondern von einer Verbündeten. Es wirkte beinahe, als würden wir gerade miteinander herumalbern. Wie war das möglich, wo wir doch innerhalb von Lucas’ Traum steckten?
Es war nicht möglich.
Mit einem Schlag verstand ich, dass sie gar kein Teil seines Albtraums war. Sie war der Grund dafür. Das war kein Traum von Charity, das geschah wirklich. Hier. In Lucas’ Geist.
Sie musste das Begreifen auf meinem Gesicht gesehen haben, denn ihr Grinsen wurde breiter, sodass es ihre Reißzähne entblößte. »Ich habe es dir doch gesagt. Lucas gehört mir.«
12
»Wie machst du das?«, schrie ich über das Prasseln des Feuers hinweg. »Wie kann es sein, dass du in Lucas’ Kopf bist?«
»Ich habe Lucas zu dem gemacht, was er jetzt ist.« Charity wickelte mit einem Finger eine Locke ihres blonden Haares auf, als würde sie mit einem Jungen flirten. Da sie mit nur vierzehn Jahren gestorben war und noch immer Babyspeck im Gesicht hatte, sah sie einfach viel zu jung aus, um derart böse zu sein. »Ich habe ihn
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