Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
quollen hervor, was ekelhafter war als alles, was ich je zuvor zu sehen bekommen hatte. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich begann zu würgen, aber das Bild hatte inzwischen alle anderen Gedanken verdrängt, und ich konnte ihm nicht entgehen.
Die Verschwörer – so nannte ich diese Geister – wiederholten unablässig: Hilf uns .
Oder was? Würden sie die Menschen, die ich liebte, auf diese Weise angreifen? Oder würden sie gegen mich vorgehen? Was konnte ein Geist einem anderen Geist antun? Ich hatte keine Ahnung, aber entsetzliche Möglichkeiten drängten sich mir auf und wurden Teil der grausigen Zerstörung von Mrs. Bethany.
Ihr Mund stand offen, ihr Kiefer war aus den Gelenken gesprungen, aber der verzweifelte Schrei in meinem Kopf war mein eigener …
Dann durchschnitt ein Lichtschein meinen Traum. Mrs. Bethany war nicht mehr da, und mit ihr verschwanden auch die zusammengeschlossenen Geister, als würde ein Sog sie fortreißen.
Als ich wieder etwas sehen konnte, entdeckte ich Maxie, die neben mir in der Großen Halle stand. Ihr weißes Nachthemd wurde sanft von einem Windhauch gebauscht, sodass sie ein Teil des Nebels draußen zu sein schien.
»Du hast mich gerettet«, sagte ich.
»Ich habe sie verscheucht. Mehr kann ich leider auch nicht tun.« Sie zog eine Augenbraue hoch, als fände sie es merkwürdig, dass sie es war, die mich vor irgendetwas bewahrt hatte. »Du bist doch das Mädchen mit den Superkräften, falls du es immer noch nicht bemerkt hast.«
Was konnte ein Geist einem anderen Geist antun? Diese beißende, neue Furcht hielt mich so fest in den Klauen wie die Verschwörer einen Augenblick zuvor. Ich sammelte mich, so gut ich konnte, und nahm eine festere Gestalt an.
»Sind das … die Gefolgsmänner von Christopher? Oder besser gesagt, seine Gefolgsgeister? Oder wie auch immer man sie nennt.«
»Christopher hat nichts mit ihnen zu tun«, sagte Maxie. »Es wäre besser für sie, wenn es anders wäre. Sie sind zu sehr an die menschliche Welt gebunden, um mit der Tatsache klarzukommen, dass sie Geister sind.«
»Sie hassen Evernight«, sagte ich. »Sie hassen Mrs. Bethany. Warum verschwinden sie nicht einfach von hier?«
Maxie verschränkte die Arme vor der Brust. »Du scheinst zu denken, dass wir alle imstande sind, das zu tun, was du tun kannst. Aber so ist das nicht. Die meisten Geister können sich nicht frei bewegen wie du oder auch nur so wie ich. Sie sind ihren menschlichen Ankern hierher gefolgt, weil die Bindung an sie so stark ist. Ihr Instinkt zwingt sie, nicht loszulassen. Und weil sie inzwischen so durchgedreht sind, können sie ihre Instinkte nicht mehr beherrschen. Sie können überhaupt nicht mehr denken. So einfach ist das. Sie bestehen nur noch aus Gefühlen, die sich in alle Richtungen ausbreiten.«
»Was ist denn los mit ihnen?«
»So enden wir, wenn wir nicht aufpassen.«
Vorsichtig fragte ich: »Du meinst, wir enden … im Wahnsinn?«
»Zerrüttet, haltlos. Das kommt davon, wenn man in der Welt der Menschen lebt, aber nicht mehr Teil davon ist.« Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, der andeutete, dass ich mit großen Schritten auf dieses Schicksal zusteuerte.
»Du hast mit Vic deine Zeit verbracht, seitdem er ein kleiner Junge war«, sagte ich. Vic war ihre große Schwachstelle, und ich war mir nicht zu schade dafür, mir dieses Wissen zunutze zu machen.
Sie lächelte weich, als ich seinen Namen aussprach. »Wir können sie beobachten. Wir können sie sogar … lieben.« Beim letzten Wort bebte ihre Stimme. »Aber wir werden nicht wieder lebendig. Und wir nehmen Schaden, wenn wir so tun, als wäre es anders.«
»Ich tue gar nicht so«, widersprach ich.
»Ach nein? Bianca, wenn du doch nur mit Christopher sprechen würdest …«
Wieder erfasste mich eine haltlose Angst, und ich schüttelte den Kopf. »Nein, das werde ich nicht tun.«
Maxies übliches sarkastisches Auftreten wich einer flehentlichen Haltung. »Bianca, du bist wichtig für uns Geister. Siehst du das denn nicht? Was du alles tun kannst, was dem Rest von uns nicht möglich ist – das ist nicht nur Schall und Rauch. Das bedeutet etwas. Du bedeutest uns etwas.« Meine Neugier siegte über meine Furcht, aber gerade, als ich ihr Fragen stellen wollte, wurde sie beinahe beängstigend verzweifelt und sagte: »Wir brauchen dich.«
»Aber ihr seid nicht die Einzigen, die mich brauchen.« Ich schwebte aus der Großen Halle, und fast fürchtete ich, dass Maxie mir nachkommen würde. Aber sie
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