Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
sehr gehasst … und sie entsetzlich gefürchtet. Natürlich hattest du Angst. Wir waren derart halsstarrig und kurzsichtig in dieser Sache. Wir hätten dir die Wahrheit sagen sollen.«
»Wenn ich es gewusst hätte …« Ich konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was ich dann getan hätte. Hätte ich mich in eine Vampirin verwandelt? Hätte ich mich für den Weg meiner Eltern entschieden? Ich war mir nicht sicher, und es spielte auch keine Rolle. Jetzt waren wir hier. »Es tut mir leid, dass ich einfach so fortgelaufen bin. Ich weiß, dass ihr euch Sorgen gemacht habt.«
Der Gesichtsausdruck meines Dads verriet mir, dass ich nicht die Hälfte dessen wusste, was sie durchgemacht hatten, aber er hielt mich weiterhin in seinen Armen. »Es ist dieser Junge. Er hatte immer einen schlechten Einfluss auf dich …«
»Dad, nicht. Ich habe die Entscheidung fortzugehen selbst getroffen. Lucas hat auf mich aufgepasst, aber es war mein eigener Entschluss. Wenn ihr böse deswegen seid – was ich euch nicht verübeln würde –, dann müsst ihr einsehen, dass es mein Fehler war. Meiner ganz allein.«
Dad streichelte mir übers Haar, sagte aber nichts. Ich wusste, dass er mir nicht glaubte.
»Lucas braucht eure Hilfe«, flüsterte ich. »Er hat solche Schwierigkeiten mit der Verwandlung. Er hasst, was er geworden ist, und kann es nicht verwinden. Und ihr könntet ihm helfen.«
»Das ist zu viel verlangt.«
»Aber darum bitte ich euch.« Nach dem, was mein Vater in den letzten Monaten durchgemacht hatte, hatte ich vielleicht nicht das Recht, so viel zu verlangen, jedenfalls jetzt noch nicht. »Wenn du dazu bereit bist. Denk einfach darüber nach.«
Die Tür zur Bücherei quietschte, und ich hörte Vic rufen: »Hier kommt die Feuerwehr.«
Mein Vater und ich fassten uns an den Händen, während Vic und Patrice damit begannen, sich ihren Weg durch das Eis zu hacken. Sie lachten dabei, denn offenbar war das eine äußerst nasse Angelegenheit. So konnte ich meinem Vater zuflüstern, ohne dass die anderen es hörten: »Können wir zu Mom gehen?«
Ich hatte erwartet, dass er voller Begeisterung reagieren würde, aber stattdessen zögerte er. »Wir sollten noch ein bisschen warten. Nicht allzu lange, aber ich muss mir erst überlegen, wie wir die Sache am besten angehen.«
Mein Herz wurde schwer. »Du denkst, dass Mom das alles nicht wird akzeptieren können. Sie hasst die Geister. Wird sie auch mich verabscheuen?«
»Deine Mom wird dich immer lieben«, sagte Dad mit absoluter Gewissheit. »Genau wie ich. Aber ihre Erfahrungen mit den Geistern waren schlimmer als meine. Nach dem Großen Feuer in London und der verheerenden Vernichtung der meisten Geister dort waren diejenigen Geister, die noch übrig geblieben waren … ›wahnsinnig‹ trifft es nicht mal annähernd. Celia kämpfte tagelang gegen ihre Verletzungen, und sie wäre gestorben, wenn ich nicht … nun ja. Während sie zwischen Leben und Tod festsaß, machte sie entsetzliche Erfahrungen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ihr gefallen ist, dem kurzen Zusammentreffen mit den Geistern, die dich erschaffen haben, zuzustimmen. Diese ganze Sache macht ihr bis zum heutigen Tag schreckliche Angst.«
»Mom … würde sich vor mir fürchten?«
»Wir werden ihr darüber hinweghelfen«, versprach er. Schon jetzt sah Dad viel besser aus als jemals sonst nach meinem Tod. Jünger, falls das möglich war. Seine Augen hatten wieder Glanz, und über seinem Lächeln lag kein Schatten mehr. »Ich will nicht, dass sie noch länger trauern muss. Aber ich will mir überlegen, wie wir ihr das Ganze am besten beibringen.«
»Okay.« Das klang vernünftig. So gerne, wie ich Mom auch wiedersehen wollte, um die Freude, die ich in diesem Augenblick verspürte, zu verdoppeln, so sehr vertraute ich auf Dads Urteilsvermögen. Er liebte meine Mutter nun schon seit vierhundert Jahren; er kannte sie besser als irgendjemand sonst. »Warte. Du hast das Große Feuer von London erwähnt. Warum sind so viele Geister dabei umgekommen?«
Er packte mich am Arm. »Bianca, weißt du das denn nicht? Wenn ein Geist in einem Gebäude eingesperrt ist, das brennt, dann wird der Geist vernichtet. Du musst vorsichtig sein, Feuer kann dir etwas anhaben.«
Dad klang, als würde er meinem dreijährigen Ich erklären, warum es eine schlechte Idee wäre, einen Herd anzufassen, während dieser eingeschaltet war. »Mach dir keine Sorgen. Ich habe nicht vor, mich irgendwo einsperren zu lassen.«
Die Eiswände
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