Evernight Bd.1 Evernight
hatte. Das schien mir tausend Jahre her zu sein. Aber das Schmuckstück war noch da, und die geschliffenen Kanten jedes einzelnen Blütenblattes fühlten sich kühl an auf meinen Fingerspitzen.
In diesem Augenblick liefen wir an einem Pfandhaus vorbei; drei goldene Kugeln, von Neonlicht umrandet, leuchteten über der Tür, und da war mir klar, was ich zu tun hatte.
»Bianca, nicht«, protestierte Lucas, als ich ihn in den schäbigen kleinen Laden zog. Die Regale waren mit wahllos zusammengewürfeltem Zeug vollgestopft, eben mit all den Dingen, von denen sich irgendwelche Leute irgendwann hatten trennen müssen: Ledermäntel in leuchtenden Farben, Sonnenbrillen mit Metallgestellen und teuerste Elektrogeräte, die vermutlich gestohlen waren. »Wir können auch zurück zur Bushaltestelle gehen.«
»Nein, können wir nicht.« Ich löste die Anstecknadel von meinem Sweatshirt und versuchte mit aller Gewalt, nicht den Blick darauf fallen zu lassen. Wenn ich mir diese vollkommenen schwarzen Blumen noch einmal anschaute, würde ich es nicht übers Herz bringen, sie wegzugeben. »Es geht nicht darum, womit wir uns gut fühlen, Lucas. Es geht darum, dass wir sicher sind und einen Platz zum Reden haben. Und…« Und um uns Lebewohl zu sagen , fügte ich still hinzu, aber ich konnte es nicht aussprechen.
Lucas dachte kurz darüber nach, ehe er nickte.
Vermutlich sahen wir beide völlig erledigt aus, als wir uns an den Pfandleiher wandten, aber ihn schien das nicht zu kümmern. Er war ein knochiger Typ in einem beschissenen Polyesterhemd, der uns kaum beachtete. »Was ist das denn? Plastik oder was?«
Rasch antwortete ich: »Echter Whitby-Jetstein.«
»Habe noch nie von Whitby gehört.« Der Pfandleiher klopfte mit den Fingernägeln gegen die geschliffenen Blätter. »Das Ding ist ganz schön altmodisch.«
»Liegt wohl daran, dass es eine Antiquität ist«, sagte Lucas.
»Das höre ich ständig«, seufzte der Mann. »Hundert Dollar. Nehmt sie oder lasst es.«
»Hundert Dollar! Das ist nur die Hälfte von dem, was die Brosche gekostet hat!«, protestierte ich. Und sie war so viel mehr als Geld wert. Ich hatte sie seit Monaten buchstäblich jeden einzelnen Tag getragen, denn für mich war sie das sichtbare Symbol meiner Liebe zu Lucas. Wie konnte dieser Mann sie nur mit einem so kalten Blick bedenken?
»Die Leute kommen nicht hierher, weil sie aus einer Investition ordentlich Profit schlagen wollen, Süße. Sie kommen, weil sie Bares auf die Hand brauchen. Willst du das Bargeld? Du hast mein Angebot gehört. Ansonsten verschwindet aus meinem Laden, und hört auf, mir die Zeit zu stehlen.«
Lucas wollte die Brosche lieber wieder mitnehmen, als sie für so viel weniger herzugeben, als sie wert war. Das konnte ich daran sehen, wie störrisch er die Kiefer aufeinandergebissen hatte. Mir wurde auf einmal bewusst, dass Lucas häufig einer starken Gefühlsregung nachgab, auch wenn es nicht der beste Schachzug sein mochte - und was uns anging, war das Behalten des Schmucks auf keinen Fall die richtige Entscheidung. Entschlossen streckte ich meine Hand aus, die Handfläche nach oben. »Dann also hundert Dollar.«
Für unser Opfer erhielten wir fünf Zwanzigdollarnoten und einen Zettel, der uns zusicherte, dass wir die Brosche später wieder auslösen könnten, wenn wir in den nächsten Tagen durch einen glücklichen Zufall zu Geld kommen würden. »Ich werde das Geld holen«, murrte Lucas, als wir wieder nach draußen liefen und auf das einzige Motel zusteuerten, das wir entdecken konnten. »Ich werde dir die Brosche wieder zurückholen.«
»Du hast mir erzählt, dass du reich wärst, als du mir die Anstecknadel gekauft hast. Stimmte das?«
»Hmm …«
Ich hob die Augenbrauen. »Nicht so ganz?«
»Ich habe Zugriff auf Geld vom Schwarzen Kreuz, und die Summe ist ganz anständig. Aber ich sollte sie für Vorräte anlegen, für wichtiges Zeug.« Er zuckte mit den Schultern. »Nicht für Schmuck auf jeden Fall.«
»Du hast dich in Schwierigkeiten gebracht, um die Brosche für mich zu kaufen?«
Lucas ballte die Fäuste in den Taschen, und seine Stimmung war niedergedrückt.
»Ich habe denen gesagt, dass ich im Grunde genommen für sie arbeite. Aber ich bekomme keinen Lohn oder Gefahrenzuschlag, und so bin ich der Meinung, dass sie mir was schuldig sind. Und genau das werde ich ihnen mitteilen, wenn ich ihnen erkläre, dass ich die Brosche wieder zurückkaufen werde. Denn sie gehört dir, Bianca. Sie gehört dir, und damit
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