Evernight Bd.1 Evernight
sagen? Entschuldige bitte, dass ich dich letzte Nacht beinahe getötet hätte? Ich nickte langsam und akzeptierte, was ich zu tun hatte. Lucas durfte nicht wissen, wie entsetzlich ich ihn betrogen hatte. Er würde mir nie verzeihen, falls er mir denn überhaupt glauben würde, wenn ich erst mal anfing, über Vampire zu sprechen. Er könnte genauso gut denken, dass ich den Verstand verloren hatte.
»Okay«, lenkte ich ein. »Wir müssen lügen. Das verstehe ich.«
»Wenn ich es nur auch verstehen würde«, sagte Mrs. Bethany mit schneidender Stimme. Sie trat durch die Tür ins Schlafzimmer, die Hände vor dem Körper gefaltet. Statt ihrer üblichen Spitzenbluse und eines dunklen Rocks trug sie ein Ballkleid in tiefem Lila und schwarze Satinhandschuhe, die ihr bis zu den Ellbogen reichten. Schwarze Perlenohrringe schimmerten, als sie den Kopf schüttelte. »Wenn wir menschliche Schüler hier zu uns nach Evernight bitten, dann wissen wir, dass es zu ernsthaften Sicherheitsproblemen kommen kann. Wir haben mit all unseren älteren Schülern eindringlich gesprochen, die Flure beaufsichtigt und die Gruppen so gut wie möglich getrennt. Und bislang auch mit ganz gutem Erfolg, wie ich dachte. Ich hätte niemals ausgerechnet von Ihnen einen Ausbruch erwartet, Miss Olivier.«
Meine Eltern standen beide auf. Zuerst glaubte ich, dass sie das aus Respekt gegenüber Mrs. Bethany taten, die ihre Vorgesetzte war. Sie waren ihr gegenüber immer so fügsam gewesen und hatten mir dasselbe beigebracht. Aber dann trat mein Vater einen Schritt vor, um mich zu verteidigen. »Sie wissen, dass Bianca nicht wie der Rest von uns ist. Das war das erste Mal, dass sie frisches Blut gekostet hat. Ihr war nicht klar, welche Auswirkungen das auf sie haben könnte.«
Mrs. Bethanys Lippen zogen sich leicht nach oben zu einem gekünstelten, unangenehmen Lächeln. »Natürlich ist Bianca ein Sonderfall. Es gibt so wenig Vampire, die als solche geboren und nicht dazu gemacht werden. Wissen Sie, dass sie erst die Dritte ist, die ich seit 1812 getroffen habe?«
Meine Eltern hatten mir erzählt, dass in jedem Jahrhundert nur eine Hand voll Vampirbabys zur Welt kommen; sie waren schon beinahe 350 Jahre lang zusammen gewesen, als Mum sie beide damit verblüffte, dass sie mit mir schwanger wurde. Ich hatte immer geglaubt, dass sie ein bisschen übertrieben, damit ich mich wie etwas ganz Besonderes fühlte. Nun begriff ich, dass sie absolut recht gehabt hatten.
Mrs. Bethany war noch nicht fertig. »Also ich würde ja davon ausgehen, dass es vorteilhaft ist, von Vampiren aufgezogen zu werden und alles über unsere Natur und unsere Bedürfnisse nach und nach zu erfahren. Das sollte doch eher ein Grund für mehr und nicht für weniger Selbstkontrolle sein.«
»Es tut mir leid.« Ich konnte nicht zulassen, dass meine Eltern dafür verantwortlich gemacht wurden, nicht, wenn es einzig und allein meine Schuld war. »Dad und Mum haben mir immer wieder gesagt, wie es eines Tages sein würde. Dass ich diesen Drang zu beißen verspüren würde. Aber ich habe mir das alles nicht vorstellen können. Nicht, bis es über mich kam.«
Mrs. Bethany nickte und dachte darüber nach. Ihre dunklen Augen huschten kurz zu Lucas, als ob er nichts als Abfall wäre, den wir im Zimmer hatten herumliegen lassen. »Er überlebt es? Dann ist ja kein dauerhafter Schaden entstanden. Wir werden morgen über Biancas Strafe beraten.«
Mum warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Bianca hat uns geschworen, dass sie so etwas nie wieder tun wird.«
»Wenn sich das in der Schule herumspricht, dass jemand einen unserer neuen Schüler gebissen und keinerlei Konsequenzen zu tragen hat, dann wird es weitere Vorfälle geben.« Mrs. Bethany raffte ihre Kleiderschöße mit einer Hand zusammen. »Und einige davon gehen vielleicht nicht so glimpflich aus. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass keinem weiteren menschlichen Schüler auch nur ein Haar gekrümmt wird, denn wir können auch nicht die geringste Spur von Misstrauen und Verdacht gebrauchen. Solch ein Übergriff darf nicht ungestraft bleiben.«
Zum ersten Mal waren Mrs. Bethany und ich ganz der gleichen Meinung. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich Lucas verletzt hatte, und einige Abende lang die Flure putzen war das Mindeste, was ich verdiente. Aber eine Schwierigkeit sah ich sofort. »Ich kann nicht nachsitzen. Oder irgendetwas putzen oder so.«
Mrs. Bethanys Augenbrauen wanderten sogar noch höher: »Sind Sie sich für solche
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