Evernight Bd.1 Evernight
nicht mehr weh. Trotzdem nahm ich rasch die Stola wieder ab.
Lucas hatte in der Zwischenzeit einen grauen Tweedmantel anprobiert, den er aus einem vollgestopften Regal hinten im Laden ausgegraben hatte. Wie der Rest des Geschäfts, so roch auch er irgendwie muffig, aber auf eine angenehme Weise, und der Mantel sah ganz erstaunlich an Lucas aus. »Wie Sherlock Holmes«, sagte ich. »Wenn Sherlock Holmes sexy gewesen wäre.«
Er lachte. »Manche Mädchen stehen auch auf den intellektuellen Typ, musst du wissen.«
»Was hast du für ein Glück, dass ich keine davon bin.«
Lucas mochte es, wenn ich ihn aufzog. Er packte mich, umschlang mich mit seinen Armen, sodass ich die Umarmung nicht erwidern konnte, und drückte mir einen festen Kuss auf die Stirn. »Du bist unglaublich«, murmelte er. »Aber du bist es wert.«
Er hielt mich so, dass mein Gesicht in der Biegung seines Halses verborgen war; alles, was ich sehen konnte, waren die beiden hellrosafarbenen Linien an seinem Hals: die Narben meines Bisses. »Ich bin froh, dass du das denkst.«
»Ich weiß es.«
Ich würde nicht mit ihm streiten. Es gab keinen Grund, warum mein schrecklicher Fehler nicht genau das bleiben konnte: ein Fehler, der sich nie wiederholen durfte.
Lucas strich mit einem Finger über meine Wange, eine sanfte Berührung wie von der weichen Spitze eines Pinsels. Klimts Kuss flackerte vor meinem geistigen Auge auf, golden und zart, und einen Augenblick lang war es, als ob Lucas und ich wirklich in das Gemälde mit all seiner Schönheit und seinen Verheißungen hineingezogen worden wären. Hinter den Regalen verborgen, verloren in einem Durcheinander aus altem, brüchigem Leder, faltigem Satin und Bergkristallen, die sich im Laufe der Zeit getrübt hatten, hätten Lucas und ich uns stundenlang küssen können, ohne aufgespürt zu werden. Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, wie Lucas einen schwarzen Fellmantel auf dem Boden ausbreitete, mich daraufbettete und sich über mich beugte …
Ich presste meine Lippen in seinen Nacken, genau auf die Narbe, so wie meine Mutter früher einen Bluterguss oder Kratzer geküsst hatte, um den Schmerz zu lindern. Sein Puls war stark. Lucas spannte sich an, und ich dachte, ich wäre vielleicht zu weit gegangen.
Für ihn kann es auch nicht leicht sein, sagte ich mir. Manchmal denke ich, ich würde verrückt werden, wenn ich ihn nicht berührte, und wie viel schlimmer musste es erst für Lucas sein? Vor allem, da er die Gründe für meine Zurückhaltung nicht kennen konnte.
Das Klingeln der Ladenglocke riss uns beide aus unserem Trancezustand. Wir spähten um die Ecke, um zu sehen, wer hereingekommen war. »Vic!« Lucas schüttelte den Kopf. »Ich hätte wissen müssen, dass du hier auftauchen wirst.«
Vic schlenderte auf uns zu, die Daumen unter den Aufschlägen des gestreiften Blazers, den er unter seinem Wintermantel trug. »Dieser Stil kommt nicht von selbst, müsst ihr wissen. Es braucht schon einige Anstrengungen, so gut auszusehen.« Dann stöhnte er, während er sehnsüchtig auf Lucas’ Tweedmantel schielte. »Ihr großen Jungs bekommt immer die ganzen guten Sachen, Mann.«
»Ich werde ihn nicht kaufen.« Lucas streifte ihn sich von den Schultern und ging auf die Tür zu. Wahrscheinlich wollte er uns noch einige ungestörte Augenblicke verschaffen, denn es wurde langsam Zeit, zum Bus zurückzukehren. Ich wusste, wie es ihm ging. Sosehr ich Vic auch mochte, wollte ich ihn doch ebenfalls nicht am Hals haben.
»Du bist verrückt, Lucas. Der soll mir passen? Keine Chance.« Vic seufzte. Es hatte ganz gefährlich den Anschein, dass er uns zum Bus hinausbegleiten wollte.
Ich dachte rasch nach. »Du, ich glaube, ich habe irgendwo da hinten im Laden Krawatten gesehen, die mit Hulamädchen bemalt sind.«
»Im Ernst?« Ohne ein weiteres Wort drehte Vic sich um und wühlte sich auf der Suche nach den Hula-Krawatten durch die Klamotten.
»Gute Arbeit.« Lucas nahm mir den Hut vom Kopf, dann griff er nach meiner Hand. »Lass uns gehen.«
Wir waren schon beinahe an der Tür, als wir an der Schmuckauslage vorbeikamen und mir ein dunkler, glitzernder Gegenstand ins Auge sprang: eine Brosche, aus einem Stein gearbeitet, welcher so schwarz wie der Nachthimmel war, aber strahlend schimmerte. Dann entdeckte ich, dass die Anstecknadel wie ein Blumenstrauß geformt war, exotisch und mit klar erkennbaren Blütenblättern, genau wie die in meinem Traum. Die Brosche war klein genug, um in meine Hand zu passen,
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