Evernight Bd.1 Evernight
und ausgeklügelt verarbeitet, aber am meisten verblüffte mich, wie sehr sie der Blume ähnelte, von der ich mittlerweile geglaubt hatte, dass sie nur in meiner Einbildung existierte. Ich war wie angewurzelt stehen geblieben und starrte sie an.
»Sieh nur, Lucas. Sie ist so wunderschön.«
»Das ist echter Whitby-Jetstein. Ein Trauerschmuck aus der viktorianischen Ära.« Die Verkäuferin musterte uns über ihre blaugeränderte Lesebrille hinweg und versuchte einzuschätzen, ob wir potenzielle Kunden oder einfach nur Kids waren, die man am besten so schnell wie möglich abwimmeln sollte. Vermutlich hatte sie sich für Letzteres entschieden, denn sie fügte hinzu: »Sehr teuer.«
Lucas mochte es nicht, wenn man ihn herausforderte. »Wie teuer?«, fragte er kühl, als würde er mit Nachnamen Rockefeller und nicht Ross heißen.
»Zweihundert Dollar.«
Meine Augen wollten aus den Höhlen treten. Wenn die eigenen Eltern Lehrer waren, dann verfügte man nicht eben über das größte Taschengeld der Welt. Das Einzige, was ich jemals für über zweihundert Dollar gekauft hatte, war mein Teleskop, und da hatten meine Eltern einen Teilbetrag beigesteuert. Ich lachte kurz auf und versuchte so, meine Verlegenheit und die Traurigkeit darüber zu kaschieren, dass ich die Brosche wohl würde hierlassen müssen. Jedes einzelne Blütenblatt war schöner als das andere.
Lucas allerdings holte lässig sein Portemonnaie heraus und hielt der Verkäuferin eine Kreditkarte entgegen. »Wir nehmen sie.«
Die Frau hob eine Augenbraue, nahm aber die Karte und tippte den Preis in die Kasse. »Lucas!« Ich packte ihn am Arm und versuchte, meine Stimme zu dämpfen. »Das kannst du nicht machen.«
»Kann ich doch.«
»Aber das sind zweihundert Dollar!«
»Du liebst die Brosche«, sagte er leise. »Das sehe ich deinen Augen an. Wenn du sie liebst, sollst du sie auch haben.«
Die Brosche lag noch immer im Schaukasten. Ich starrte sie an und versuchte mir vorzustellen, dass mir etwas derartig Schönes gehören würde.
»Ich… liebe sie tatsächlich. Aber… Lucas, ich will nicht, dass du dich meinetwegen in Unkosten stürzt.«
»Seit wann besuchen denn arme Leute die Evernight-Akademie?«
Okay, damit mochte er recht haben. Aus irgendeinem Grund hatte ich nie wirklich darüber nachgedacht, dass Lucas wohlhabend sein musste. Vic vermutlich ebenfalls. Raquel war nur aufgrund eines Stipendiums da, aber von ihrer Sorte gab es nur einige wenige. Die meisten der menschlichen Schüler gaben das Geld mit vollen Händen aus, nur um von Vampiren umgeben zu sein - auch wenn sie Letzteres natürlich nicht wussten. Sie benahmen sich nicht wie Snobs, aber das lag vermutlich daran, dass sie dazu gar keine Chance hatten. Diejenigen, die sich wirklich wie privilegierte reiche Kids aufführten, waren jene, die schon seit Jahrhunderten Geld angehäuft oder IBM-Aktien gekauft hatten, als die Schreibmaschine noch eine neumodische Erfindung war. Die Hierarchie in Evernight war so streng - Vampire an der Spitze, Menschen kaum der Beachtung wert -, dass mir eines gar nicht aufgefallen war: Die meisten der menschlichen Schüler kamen ebenfalls aus reichen Familien.
Dann fiel mir ein, dass Lucas einmal versucht hatte, mir von seiner Mutter zu erzählen, und davon, wie dominant sie sein konnte. Sie waren überall umhergereist, hatten sogar in Europa gelebt, und er hatte gesagt, dass sein Groß- oder Urgroßvater oder irgendein anderer Verwandter auch in Evernight gewesen war, jedenfalls bis er rausgeworfen worden war, weil er sich duelliert hatte. Ich hätte mir denken können, dass Lucas nicht arm war.
Nicht dass das eine unangenehme Überraschung gewesen wäre. Meiner Meinung nach sollten sich alle Freunde, mit denen man eine Beziehung führt, als insgeheim reich entpuppen. Aber es erinnerte mich daran, dass Lucas und ich erst damit begannen, einander kennenzulernen, wie sehr auch immer ich ihn liebte.
Und das wiederum ließ mich wieder an die Geheimnisse denken, die ich mit mir herumtrug.
Die Verkäuferin bot an, die Brosche einzuwickeln, aber Lucas nahm sie einfach und steckte sie mir an meinen Wintermantel. Während wir Hand in Hand ins Stadtzentrum zurückliefen, fuhr ich mit einem Finger immer wieder die scharf geschnittenen Blütenblätter entlang. »Danke. Das ist das tollste Geschenk, das jemals jemand für mich gekauft hat.«
»Dann ist es das am besten angelegte Geld, das ich je für irgendetwas ausgegeben habe.«
Beschämt und glücklich
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