Evernight Bd.1 Evernight
Mittelalter stecken geblieben.«
»Mehr so im frühen achtzehnten Jahrhundert.« Ich drehte den Kaltwasserhahn zu und lächelte sie verschmitzt an. »Und wie mir aufgefallen ist, hast du gar nichts mehr davon gesagt, dass du nächstes Jahr nicht wieder zurückkommen willst.«
Das brachte mir einen nassen Waschlappen ein, der in meine Richtung geschleudert wurde, aber es gelang mir rechtzeitig, mich zu ducken.
Als ich in dieser Nacht im Bett lag, schlüpfte Patrice aus dem Fenster, um sich einen späten Imbiss zu suchen, und ich versuchte herauszufinden, wie ich mich fühlte. Wie der einmal verspürte ich die beinahe mystische Verbundenheit mit Lucas, aber dieses Mal war es fast noch besser. Er wusste nun Bescheid; er hatte alles verstanden. Ich musste ihn nicht mehr anlügen, und das allein war eine unaussprechliche, riesige Erleichterung. Nichts sonst zählte noch.
Das dachte ich jedenfalls bis zum nächsten Morgen.
Ich wachte mit denselben geschärften Sinnen auf wie damals. Meine Eltern hatten gesagt, dass ich mich an die Sinneseindrücke gewöhnen würde, aber bislang war das ganz sicher noch nicht der Fall. Ich zog mir das Kissen über den Kopf im fruchtlosen Versuch, nicht mehr hören zu müssen, wie Genevieve unter der Dusche Chorlieder sang, die Vögel vor dem Fenster tschilpten und irgendjemand weiter unten bereits seine Bleistifte spitzte. Der Kopfkissenbezug fühlte sich rau auf meiner Haut an, und der Geruch von Patrice’ Nagellack war beinahe erdrückend.
»Musst du dir jeden einzelnen Tag eine Pediküre verpassen?« Ich warf die Bettdecke weg.
Patrice starrte auf meine nackten Füße, die ganz offensichtlich schon eine ganze Weile lang wenig Beachtung erfahren hatten. »Einige legen eben mehr Wert auf Hygiene und Pflege als andere. Ich versuche, das nicht als Spiegel des Charakters zu sehen.«
»Einige Leute haben Besseres zu tun, als ihre Nägel zu lackieren«, gab ich zurück. Sie ignorierte mich und machte sich wieder daran, burgunderfarbenen Lack auf ihren kleinen Zeh zu pinseln.
Als ich nach unten ging, hatte ich das Gefühl, meine geschärften Sinne wieder in den Griff bekommen zu haben. Was mich mehr beschäftigte, war das gespannte Gefühl, Lucas wiederzusehen. Auch wenn er mich gebeten hatte, ihn zu beißen, musste die Wunde letztlich geschmerzt haben. Was, wenn ihn das doch abgeschreckt hatte?
Er wartete nicht auf mich, als ich unten ankam. Als wir im letzten Semester zusammen gewesen waren, hatte er normalerweise am Eingang zum Mädchentrakt auf mich gewartet, den Rucksack über eine Schulter gehängt, aber heute war das nicht der Fall. Ich versuchte, das nicht an mich heranzulassen, und sagte mir, dass er einfach verschlafen hatte. Das geschah manchmal, und nach der letzten Nacht stand es außer Frage, dass er seine Ruhe brauchte.
Mittags suchte ich auf dem Schulgelände nach ihm, aber er war nirgends zu entdecken. Trotzdem sagte ich weder etwas zu meinen Eltern noch zu sonst irgendwem. Lucas hatte letzte Nacht beteuert, dass er mir glaube, und das bedeutete, dass auch ich Vertrauen zu ihm haben musste. Selbst als ich in den Chemiekurs ging und feststellte, dass Lucas schwänzte, sagte ich mir, dass ich an ihn glauben müsste.
Erst nach dem Unterricht gesellte sich Vic auf dem Flur zu mir und versuchte, wenig überzeugend, beiläufig zu tun. »Hey, du. Erinnerst du dich daran, dass du mal in unseren Raum geschlichen bist?«
»Ja, kurz vor Weihnachten.« Ich sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Warum?«
»Glaubst du, du könntest das noch mal tun? Etwas Merkwürdiges geht mit Lucas vor sich, und er will mir nicht sagen, was los ist. Ich schätze, wenn irgendjemand ihn beschwatzen kann, zum Arzt zu gehen, dann bist du das.«
Zum Arzt? O nein. Entsetzt packte ich Vic am Arm. »Bring mich zu ihm. Sofort.«
»Okay, bin ja schon dabei.« Er führte mich bis zum Schlaftrakt der Jungen und sah sich sorgfältig um, ob uns jemand gefolgt war. »Keine Panik. Es ist keine Blinddarmentzündung oder so was. Lucas benimmt sich einfach seltsam. Das soll heißen, noch seltsamer als sonst.«
Seit Erichs Verschwinden waren alle mehr auf Zack als sonst, sodass es dieses Mal gar nicht so leicht für mich war, mich hochzuschleichen. Vic musste zuerst jeden Flur überprüfen, warten, bis die Luft rein war, und mir dann ein hektisches Zeichen geben. Daraufhin eilte ich in den Gang und versteckte mich in einer Ecke, während Vic den nächsten Flur absuchte. Endlich hatten wir es
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