Evernight Bd.1 Evernight
erfahren.«
Die Wahrheit ans Licht zu bringen erwies sich als schwieriger, als ich es erwartet hatte.
»Siehst du, wie leicht das ist?« Patrice war so froh, dass ich sie gebeten hatte, mir zu zeigen, wie man seine Füße richtig pflegte, dass man hätte meinen können, ich würde sie für Privatunterricht bezahlen. »Morgen werden wir eine Farbe aussuchen, die besser zu deinem Hautton passt. Dieses Korallenrot beißt sich irgendwie.«
»Ja, toll. Ich meine, das wäre großartig.« Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich meine Zehennägel für den Rest des Schuljahres würde nachlackieren müssen, aber wenn ich etwas Wertvolles während dieser Sitzungen erfuhr, dann hätte sich die Mühe gelohnt. »Es muss frü her schwer gewesen sein, alles in Ordnung zu halten, als es noch keinen Nagellackentferner und solche Sachen gab.«
»Na ja, es gab ja auch keinen Nagellack, den wir entfernen mussten. Aber es war eine Herausforderung, wenn man sich zurechtmachen wollte. Talkpuder half ganz gut.« Patrice seufzte, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. »Florida-Wasser, Duftsäckchen und Parfüm auf kleinen Taschentüchern, die man sich in den Ausschnitt des Kleides stecken konnte.«
»Und das hat die Jungs angemacht?« Als sie nickte, stieß ich ein bisschen weiter vor. »So sehr, dass du… nun ja … sie beißen konntest?«
»Manchmal.« Daraufhin veränderte sich ihr Gesicht und nahm einen Ausdruck an, den ich selten bei Patrice gesehen hatte: Es wurde zornig. »Die Männer, die ich traf, waren Schönlinge, musst du wissen. Es waren Bieter und Käufer. Die Bälle, auf die ich vor dem Bürgerkrieg ging, waren Quarteronen-Bälle - du weißt wahrscheinlich gar nicht, was das ist, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Viele Mädchen, die wie ich waren - halb weiß, halb schwarz und damit hell genug, um den Plantagenbesitzern zu gefallen… Viele von uns wurden nach New Orleans geschickt und dann zur anständigen jungen Dame erzogen. Man konnte beinahe vergessen, dass man eine Sklavin war.« Patrice starrte auf ihre halb lackierten Zehennägel. Drei von ihnen glänzten feucht. »Und dann, wenn du alt genug warst, gingst du auf Quarteronen-Bälle, damit die weißen Männer dich von oben bis unten begutachten und deinem Besitzer als neue Mätresse abkaufen konnten.«
»Patrice, das ist ja entsetzlich!« Ich hatte noch nie so etwas Abscheuliches gehört.
Sie warf ihren Kopf in den Nacken und sagte leichthin: »Ich wurde in der Nacht vor meinem ersten Ball verwandelt. Und so verbrachte ich die ganze Saison damit, einen Mann nach dem anderen auszusaugen. Sie glaubten, sie würden mich benutzen, dabei war es die ganze Zeit andersherum. Und dann rannte ich davon.«
Es war das erste Mal, dass Patrice mir etwas anvertraute - jedenfalls das erste Mal, dass es was Ernstes war. Ich hätte sie gerne weitersprechen lassen, damit sie mir mehr über ihre Vergangenheit hätte erzählen können, aber um Lucas’ willen musste ich das Thema wechseln. »Hast du jemals mehr als einmal vom gleichen Mann getrunken?«
»Hmm…« Patrice schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. »Oh, ja. Beauregard. Fett. Selbstgefällig. Er konnte zwei Liter Blut einbüßen, ohne es auch nur zu merken, was mir ganz gelegen kam.«
»Und passierte etwas mit ihm?«
»In der letzten Nacht der Saison fiel er vom Pferd und brach sich das Genick. Vielleicht lag es daran, dass ihm von Blutverlust schwindlig geworden war, aber wahrscheinlich war er einfach betrunken. Findest du, dass Pflaume zu meinem Hautton passt?«
»Pflaume sieht toll bei dir aus.«
Und damit war das Gespräch beendet. Die Tür, die sich zwischen uns geöffnet hatte, war zugeschlagen worden, und Patrice zog sich wieder zwischen ihre Seidenkleider und Düfte zurück, um nicht mehr auf ihre harte Vergangenheit zurückblicken zu müssen. Ich wusste, dass ich sie nicht noch einmal würde ausfragen können, ohne ihr Misstrauen zu wecken, und so war das ganze Gespräch völlig nutzlos gewesen.
Und die Bibliothek? Mehr als nutzlos. Man sollte doch meinen, dass es in der Bibliothek einer Vampirschule auch Bücher über Vampire gäbe, oder? Aber nein. Die einzigen Bände, die ich finden konnte, waren Horrorromane, die unter der Rubrik Humor eingeordnet waren, und einige ernsthafte volkskundliche Abhandlungen, die aber eher frei erfunden waren, als dass sie Tatsachen enthielten wie die anderen, die wir bei Mrs. Bethany im Bereich Folklore gelesen hatten. Anscheinend gab es keine
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