Evers, Horst
Mühe entnehmen
konnte, dass diese Odenwald-Bimmelbahn genau alle vier Stunden fuhr. Ein Blick
aufs Taschentelefon. Ach guck, das war offensichtlich eine dieser wunderbaren
Ecken, wo es nicht einmal ein Handynetz gibt.
Hätte ich
zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, dass der Ort, 144 in dem
Ralf und Beate wohnten, eigentlich Eberbach hieß, was rund zwanzig Kilometer
weiter lag, und es nur Beates skurrilem neuem Sprachmix aus Berlinern und
Odenwald-Deutsch zu verdanken war, dass sie diesen Ort «Ebberss-beaach»
aussprach, wäre ich vielleicht sogar noch einen Tick verzweifelter gewesen.
Abgeschnitten von jeglicher Zivilisation, komplett ohne Handyempfang, die
einzige Verbindung zur Außenwelt ein unbefestigter, matschiger Feldweg, auf dem
sich mein schwerer Rollkoffer nicht rollen ließ und der zudem nach circa
achthundert Metern in einen sehr, sehr dunklen Wald führte, knapp drei Stunden
vor Beginn meiner Vorstellung und quasi ohne Hoffnung auf Rettung, da mich
hier niemand abholen oder auch nur suchen würde. Ich war sozusagen oberirdisch
verschüttet. Im Odenwald geht so was.
Ich setzte
mich auf meinen Rollkoffer und wartete ... Nach gut einer Stunde stand ich auf
und fing an, um den Block, also um meinen Rollkoffer, herumzugehen. Als mir
schwindlig wurde, setzte ich mich wieder und begann zu begreifen. Ralf und
Beate hatten tatsächlich nicht zu viel versprochen. Ja, hier hatte man mal so
richtig seine Ruhe. Und doch täuschten sie sich: Es gefiel mir nicht. Es
dämmerte. Plötzlich bewegte sich etwas im Wald. Tiere? Würden jetzt Tiere
angreifen? Aus Rache? Wegen meiner ewigen Fleischesserei? Wölfe? War diese
Bedarfshaltestelle womöglich so etwas wie eine Fütterungsstelle? Der Evers ...
Im Odenwald von Wölfen gefressen ... Hätte man auch nicht gedacht ... An einer
Bedarfshaltestelle ... Warum er da wohl überhaupt ausgestiegen ist? ... Na,
vielleicht wollte er ja gefressen werden ... Hatte ja schon immer so was
Seltsames an sich ... Man sieht es den Leuten ja nicht an, wenn die sich
wünschen, von Wölfen gefressen zu werden ... Obwohl der Evers ... Da hätte man
sich das eigentlich denken können ... Würde man dereinst so über mich reden?
Aber nein,
es war nur ein fünf- oder sechsjähriger Junge, der auf einer Art Geländekettcar
aus dem Wald auf mich zugefahren kam. Dachte: Na, wenn das Bruder Hein ist,
dann müssen ab jetzt aber viele Gruselgeschichten umgeschrieben werden. Rufe
dem Jungen zu:
- Hallo, wohnen deine Eltern hier in
der Nähe?
- Ja, hinterm Wald.
- Oh, kannst du mich dahin bringen?
Ich muss dringend telefonieren.
- Haben Sie kein Handy?
- Doch, aber hier ist ja kein Netz.
- Och, ich habe Netz.
- Du hast ein Handy?
- Klar.
Ein
Wunder. Mit Tränen in den Augen stapfe ich durch den Matsch zu ihm.
- O Junge, kann ich bitte mal mit
deinem Handy telefonieren?
- Ich darf niemanden mit meinem
Handy telefonieren lassen.
- Oh, bittebitte, es ist wirklich dringend.
Ich geb dir zwei Euro für das Gespräch.
Er hält
die Hand auf. Krame zwei Euro raus und gebe sie ihm. Er streckt mir das Handy
hin:
- Hier! Das
hat überall Netz!
Als ich
das grüne, zucchiniförmige Plastikhandy in seiner Hand sehe, werte ich das als
erheblichen Rückschlag. Auch als er den roten Knopf drückt und das
Zucchini-Handy «Telefon für Mister Gurke!» sagt, heitert mich das nicht
wirklich auf. Selbst als er nochmal den Knopf drückt und das Telefon erneut
«Telefon für Mister Gurke!» quäkt, werde ich nicht fröhlicher. Erst beim
dritten «Telefon für Mister Gurke!» muss ich doch lachen oder zumindest so gluckernde
Geräusche machen, die sich ein wenig anfühlen wie Lachen.
Dann
gelingt es uns tatsächlich, mit seinem Gelände-Kettcar meinen Rollkoffer zum
Hof seiner sehr netten Eltern zu schaffen. Die fahren mich direkt zum
Veranstaltungsort, von wo aus Ralf und Beate mich nach der Vorstellung in ihr
schönes Odenwald-Haus mitnehmen. Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählt
Ralf, er müsse demnächst mal nach Berlin kommen. Beim Umzug vor zehn Jahren
habe er ja seine drei Fahrräder bei uns im Hof angeschlossen und die Schlüssel
durch unseren Türschlitz geworfen. Er sei sich nicht sicher, ob er uns das
damals in der Hektik überhaupt noch gesagt habe. Gebe ihm die Nummer von Herrn
Carl. Der bereitet ihm bestimmt einen ganz großen Bahnhof. Sehr viel größer als
jede Bedarfshaltestelle im
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