Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
auftauchte und deutete mit dem Daumen nach oben. „Da geht’s ’raus.“
Mit einer eleganten Verbeugung ließ er ihr den Vortritt. „Ich hab’ dir erzählt, an was für einem Fall ich zur Zeit arbeite“, sagte sie über die Schulter, während sie die flachen Stufen hinauf stieg.„Und du schienst sehr interessiert.“
Shaytan nickte, und er verstand. „Du suchst doch nicht etwa hier nach den verschwundenen Menschen, oder doch?“, fragte er. Er war stehen geblieben und auf seinem Gesicht breitete sich ein ungläubiges Lächeln aus.
Auch Evianna war stehen geblieben und sah von ihrer Treppenstufe auf ihn herab. „Was ist denn daran so lustig?“, fragte sie verärgert, als sie sein Lächeln bemerkte. Um sie nicht wütend zu machen, war Shaytan bemüht, das Lachen zu unterdrücken, doch ganz wollte es ihm nicht gelingen.„Du weißt, was ich bin, …was wir sind und du suchst hier nach lebendigen Menschen?“
Evianna hob die Schultern. „Warum nicht? Ich dachte da an eine Art Vorratshaltung. Allerdings weiß niemand, ob die verschwundenen Menschen überhaupt noch am Leben sind.“
Belustigt schüttelte Shaytan den Kopf. „Ich muss dich enttäuschen, aber mit Vorräten arbeiten wir nicht. Sie machen zu viel Dreck und Arbeit. Und falls du diesen Gedanken noch weiter verfolgen möchtest: auch Tiefkühlprodukte kommen nicht in Frage, das Auftauen macht sie ungenießbar. Du kannst es dir also sparen nach einer Kühlkammer zu suchen.“
„Hmm“, brummte Evianna und starrte nachdenklich auf eine der Treppenstufen. „Komm’ jetzt.“ Shaytan ging an ihr vorbei. „Ich glaube, die anderen warten.“ Warten? Auf wen denn? „Etwa auf mich?“, fragte Evianna und eine ungewisse Anspannung wuchs in ihr.
„Auf wen denn sonst?“, fragte Shaytan und ging weiter. „Wir haben hier selten Gäste.“
„Moment noch.“ Sie wollte Shaytan noch so viele Fragen stellen, doch er schüttelte abweisend den Kopf.
„Nicht jetzt. Die Sonne wird bald aufgehen.“
Daher also die Eile.
„Gib mir die Waffe“, bat er.
„Niemals.“
„Bitte. Niemand tritt Thot mit einer Waffe in der Hand gegenüber. Zum einen wäre es unhöflich, zum anderen würden die Kugeln nichts ausrichten können.“ Evianna drehte den Lauf der Trommel. „Diese Babys hier ganz bestimmt.“ Shaytan schüttelte den Kopf. „Glaub mir. Sie würden nicht mehr hinterlassen, als eine Schramme.“
Falls das tatsächlich stimmte, ließ sich dadurch die relative Gleichgültigkeit der Gargoyles erklären, als sie der Reihe nach auf sie gezielt hatte. Evianna hatte sich schon gefragt, woher dieser Umstand wohl rührte. Nur, warum hatte man dann den Gefangenen freigelassen, wenn nicht aufgrund der Bedrohung mit der ZiG4? Shaytan streckte die Hand aus und Evianna legte die Waffe zögernd hinein. In seiner großen Hand wirkte sie winzig. Er schob sie in den Hosenbund und ging weiter.
Evianna folgte ihm in die große Halle, wo sich der Rest der Mannschaft bereits versammelt hatte. Thot thronte allein an der Stirnseite der Tafel, vertieft in ein Gespräch mit Shox, dessen Augen tatsächlich ausschließlich weiß waren. Beide sahen auf als Evianna die Halle betrat. Rechts von ihnen saßen der zweite Schläger aus dem Kerker, dessen Namen sie nicht kannte und Daimon. Er unterhielt sich über den Tisch hinweg mit Pan’C.
Shaytan führte sie zur Tafel. Die Männer erhoben sich und bildeten einen lockeren Kreis um sie, alle bis auf Thot, der sitzen geblieben war. Vor Nervosität trat Evianna von einem Bein auf das andere. War das hier so was wie ein Strafgericht oder würde sie wirklich als Frühstück auf der blank polierten Tafel landen? Innerlich betete Evianna, dass diese Monster wenigstens ähnlich zivilisiert waren, wie Vampire. Dafür sprach, dass Shaytan ihr nicht wie ein instinktgesteuertes Raubtier vorkam. Nur, konnte man von seinem Verhalten auf das der anderen Gargoyles schließen? Als Evianna die finsteren Gestalten näher betrachtete, glaubte sie das eigentlich nicht. Außerdem sah sie nur sechs von ihnen. Hatten Shak und Gabriel nicht behauptet, es wären sieben?
Am oberen Treppenabsatz erschien der Mann, der im Kerker verprügelt worden war und lenkte Eviannas Aufmerksamkeit dadurch auf sich. Er trug jetzt einen eleganten dunklen Anzug und das kurze schwarze Haar glänzte frisch gewaschen. Falls er Schmerzen hatte, sah man es ihm nicht an. Gefolgt von zwei dicken Ghulen kam er die Treppe herunter und reihte sich in den Kreis der Umstehenden ein. Dabei
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