Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
folgte den Ästen, die zur Mauer hin immer dünner wurden. Bei genauerer Betrachtung glaubte sie nicht, dass einer dieser Äste ihr Gewicht tragen konnte, aber einen Versuch war es wert.
Sie zog den Gürtel aus ihrer Hose und umschlang damit den dicken Baumstamm. So gelang es ihr mühelos, den untersten Ast zu erreichen. Nachdem sie den Gürtel wieder seiner ursprünglichen Aufgabe zugeführt hatte, kletterte sie weiter, bis sie den Ast erreicht hatte, der über die Mauer reichte. Er war kaum dicker als ihr Unterarm und als sie sich darauf stellte, gab er ein wenig nach.
Bis zur Mauer fehlten noch etwa drei Meter.
Evianna betrachtete das Anwesen. Von hier oben hatte man einen guten Blick auf einen großen Teil des Grundstücks und auf das Haus. Hinter einigen der Fenster brannte Licht.
Evianna erwog ihre Möglichkeiten. Springen kam nicht in Frage, denn der Ast würde brechen, sobald sie sich abstieß. Also tat sie vorsichtig einen Schritt nach dem anderen, wobei ihr einziger Halt aus einem dürren Zweig über ihr bestand. Mühsam hielt sie ihren Körper im Gleichgewicht.
Der Ast, auf dem sie stand, senkte sich bedrohlich. Noch zwei Meter, dann wäre es geschafft. Ein lautes Knacken zerriss die Stille der Nacht. Noch zwei schnelle Schritte und im Moment, da der Ast brach, fiel Evianna mehr, als dass sie sprang. Im Fallen erwischte sie das obere Ende der Mauer und sie bemühte sich nach Kräften sich daran festzuhalten.
Zwar fanden ihre Finger an dem rauen Stein Halt, aber nun hing sie wie ein nasser Sack von außen an der Mauer. Gut, dass niemand sie sah, dachte sie, während sie sich vor Anstrengung keuchend bis auf die Mauer hochzog. Sie sprang auf der anderen Seite herunter und blieb erstmal im Gras unter einem Eibisch liegen. Bei Gott, sie hoffte, dass sich der Aufwand lohnte. Als sie wieder ein wenig zu Atem gekommen war, nahm sie das riesige Grundstück in Augenschein.
Das Herrenhaus war noch mindestens dreihundert Meter von ihr entfernt. Von dort aus würde man sie mit bloßem Auge nicht erkennen können, solange sie sich nicht auf eine der freien Flächen direkt ins Mondlicht stellte, - was sie natürlich nicht vorhatte. Evianna suchte die nähere Umgebung nach Kameras ab, doch sie konnte nirgends welche entdecken. Davon ermutigt schlich Evianna geduckt durch den Mondschatten der Büsche und Sträucher. Mit Wichtel-Aktivität war um diese Uhrzeit noch nicht zu rechnen. Die kleinen Burschen kamen normalerweise erst kurz vor Sonnenaufgang aus ihren Höhlen und selbst falls einer von ihnen an Schlafstörungen litt, war nicht zu befürchten, dass er den Sicherheitsdienst rief, jedenfalls nicht, solange sie sich nicht an seinen Pflanzen vergriff. Evianna dachte an den abgebrochenen Ast der Eiche. Aber der zählte eigentlich nicht, da er außerhalb des Grundstücks und damit wohl auch außerhalb ihres Territoriums wuchs. Das hoffte sie zumindest. Doch mehr Sorge als der abgebrochene Ast machte Evianna das Gefühl, das sie gerade beschlich, - das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein seltsames Prickeln im Nacken verriet ihr, dass sie nicht allein war.
Sie zog ihre Waffe hervor. Blitzartig fuhr sie herum und sah in die Dunkelheit, doch hinter ihr war niemand. Litt sie in letzter Zeit vielleicht an Verfolgungswahn? Denn in den letzten Tagen hatte sie oft das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Doch passierte das anscheinend nur in ihrer Einbildung, denn bisher hatte sie nie einen Beobachter ausmachen können.
Plötzlich brach rechts von ihr ein Zweig.
Evianna ging hinter einer Eibe in Deckung und spähte in die Dunkelheit. Sie vernahm einen unterdrückten Fluch. Also war sie doch nicht allein.
„Alles in Ordnung bei dir?“, schnarrte eine Stimme aus einem Funkgerät ganz in der Nähe.
„Ja, alles klar“, kam die Antwort. „Ich bin nur an einem blöden Busch hängen geblieben.“
„Na, dann“, kam die Stimme aus dem Funkgerät.
„Warte mal. Ich glaube, ich rieche etwas.“
Evianna hielt den Atem an. Riechen ? Also war das dort in ihrer Nähe kein Mensch. Es sei denn, er stand direkt in einem Kuhfladen. Das hätte sicher auch ein Mensch gerochen. Evianna tippte auf einen Vampir oder ein Mischwesen. Beides keine guten Voraussetzungen, denn beide könnten sie relativ mühelos an ihrem Geruch aufspüren, wenn der Wind richtig stand.
So leise wie möglich brachte Evianna etwas mehr Abstand zwischen sich und den Mann, bis sich ihr Fuß an einer aus der Erde ragenden Wurzel verfing. Mit einem dumpfen Aufschlag ging
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