Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
Schritte.
„Weiter!“, befahl Satyr.
Noch weiter? Wofür brauchte er denn so viel Platz? Wahrscheinlich ließ er sich einfach nicht gern’ beim Essen zusehen.„Irgendwo hier ist mindestens noch ein zweiter Wachmann. Beeildich lieber“, sagte sie bevor sie sich weiter entfernte und hinter einer Ligusterhecke verschwand.
Evianna lauschte doch hinter ihr blieb alles ruhig. Wie gern’ hätte sie jetzt eine Zigarette geraucht, doch der Geruch des Rauchs und die aufleuchtende Glut hätten sie sofort verraten. Deshalb verzichtete sie darauf. Im Mondlicht betrachtete sie die Innenfläche ihrer rechten Hand. Sie lächelte. Der hässliche, eingebrannte Mischwesenkopf war verschwunden. Sehr gut. Jetzt konnte Zagon kommen und behaupten, was er wollte. Für eine Verbindung zum Jenseits gab es keinen greifbaren Beweis mehr.
Evianna trat von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte nicht vor auf Satyr zu warten. Sollte er doch sehen, wie er nach Hause kam. Immerhin hatte er ja auch den Weg hierher allein gefunden und sie hatte ihn nicht um sein Erscheinen gebeten. In der Absicht, ihm diesen Entschluss mitzuteilen, ging sie zurück zu der Stelle, an der sie ihn mit dem toten Wachmann zurückgelassen hatte, doch sowohl Satyr als auch der Körper des toten Wachmannes waren verschwunden. Umso besser , dachte Evianna und wollte gerade gehen, als sie ein unangenehmes Geräusch hörte. Es klang, als würden Knochen brechen und es kam ganz aus der Nähe. Vorsichtig näherte sie sich einem großen, dicht gewachsenen Ilex und was sie dahinter entdeckte, ließ ihren Herzschlag ein paar Takte aussetzen. Ihr Atem stockte, als sie einem schwarzen, ledrigen Wesen von gewaltigen Ausmaßen dabei zusah, wie es sich über die Reste einer Mahlzeit hermachte, die vor kurzem noch der tote Wachmann gewesen sein musste. Das letzte Stück von ihm verschwand im Furcht einflößenden Maul der Bestie, dann war nichts mehr von dem Wachmann übrig.
Eviannas Atem pfiff, als ihr Herz den normalen, wenn auch viel zu schnellen Betrieb wieder aufnahm.
Das Wesen hielt in der Bewegung inne. Sehr langsam drehte es sich zu ihr herum. Es überragte sie um gut einen Meter und es war abgrundtief hässlich. Evianna war vor Schreck wie gelähmt und starrte die abstoßende Teufelsfratze mit den langen geschwungenen Hörnern an.
Das Wesen nahm ihre Witterung auf. Auf krummen aber sehr muskulösen Beinen näherte sich die Kreatur. Dabei schlug der Schweif aufgeregt um den grotesken Körper.
Ein Wesen wie dieses hatte Evianna noch nie zuvor gesehen.„Satyr?“, fragte sie vorsichtig. Ihre Stimme brach.
Evianna ging rückwärts doch sie kam nicht weit. Sie stolperte über einen Stein und landete auf dem Hinterteil. Drohend und zähnefletschend ragte die abscheuliche Kreatur über ihr auf. Plötzlich entfaltete die Bestie ein paar riesige Schwingen mit einer Spannweite von gut sechs Metern. Das Biest konnte also auch fliegen? Das alles war einfach zu viel für Evianna. Die Bestie würde sie fressen und nichts würde von ihr übrig bleiben. In dem Glauben daran, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte, verlor Evianna dankbar das Bewusstsein.
Ein unbestimmter Schmerz tobte in Eviannas gesamten Körper und noch bevor sie die Augen öffnete, wusste sie, dass sie nicht zu Hause war. Doch wo war sie dann? Sie lag in einem Bett, so viel stand fest. Aber ein Krankenhaus war das hier nicht. Bruchstückchenhaft kehrte die Erinnerung an die Ereignisse unmittelbar vor ihrer Ohnmacht zurück, an diese schreckliche Kreatur, die Satyr gewesen war.
Ungeachtet der bohrenden Kopfschmerzen kletterte Evianna aus dem Bett und stellte fest, dass sie bis auf die Unterwäsche nackt war. Auf der Suche nach ihrer Kleidung und – was noch viel wichtiger war – nach ihrer Waffe lief sie im Zimmer umher, als es plötzlich klopfte. Evianna griff nach der Bettdecke und wickelte sich darin ein. Sie wich in eine Ecke des Zimmers zurück und wartete. Es klopfte erneut. „Evianna?“, rief eine leise Stimme.
Shaytan?
Sie ahnte, wo sie sich befand: die alte Burg auf dem Rheinfelsen– der Unterschlupf der Gargoyles.
„Evianna?“, fragte Shaytan, diesmal etwas eindringlicher. „Bist du wach?“ „Komm’ rein!“, sagte sie schwach.
Die Tür ging auf und Shaytan trat ein. Sein Gesichtsausdruck verriet tiefe Besorgnis. „Bist du okay?“, fragte er um ein Lächeln bemüht.
„Ich weiß nicht“, gestand Evianna. So wie es sich anfühlte, hielt sie sich gerade so auf den Beinen. „Wie
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