Evies Garten (German Edition)
näher. Sie streckte einen Finger aus und streichelte sanft über die Rinde. Sie fühlte sich rau an und gleichzeitig auch weich.
»Ich wette, ich kann hinaufklettern«, sagte Alex. Er hievte sich hinauf in die Äste und entdeckte einen ganzen Ast voller Äpfel. Er legte seine Hand um eine reife rote Frucht, und er pflückte sie ab. In diesem Augenblick spürte Evie zum ersten Mal ein komisches Gefühl in der Magengegend. Maggies Stimme klang ihr in den Ohren.
»Sie starrte hinauf in den Himmel, als würde sie dort etwas Wunderschönes sehen. Aber Rodney sah nichts. Dann ging Eva weiter. Er rief sie zurück. Doch im Handumdrehen war sie spurlos verschwunden, und seitdem hat keiner sie je wieder gesehen.«
Alex hielt sich schon den Apfel an den Mund.
»Warte!«, rief Evie.
»Warum?«, fragte er. »Ich hab ihn schon gepflückt.«
Evie fielen die Geschichten wieder ein, die Mom ihr vorgelesen hatte. Geschichten über vergiftete Äpfel und Lügen, die Menschen dazu verführten, schreckliche Fehler zu begehen. Sie dachte an die vermisste Eva und die Warnung in der Legende. Wie sollte sie sich nur entscheiden?
Dann dachte sie an ihren Vater.
Was, wenn auch ich nie mehr zurückkomme und er immer nach mir suchen muss, so wie Rodney seine Schwester gesucht hat? Aber was, wenn Vater ohne mich glücklicher ist, weil er dann jeden Tag draußen arbeiten kann, ohne gestört zu werden?
Plötzlich war es nicht mehr angenehm kühl. Es war heiß. Zu heiß.
Evie ballte die Fäuste. »Ich weiß nicht, ob ich es kann«, gab sie zu, während ihr Tränen in die Augen stiegen.
Alex, der über ihr im Baum hockte, lächelte nur.
»Es ging eigentlich ganz leicht«, sagte er.
Dann hob er den Apfel an den Mund und biss hinein.
In einem anderen Land
Die Welt um sie herum verschwamm. Und Alex, den sie gerade noch vor sich gesehen hatte, war plötzlich verschwunden. Evie bemühte sich, klare Gedanken zu fassen, doch in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie sah nur noch, wie der Baum in Streifen aus brauner Rinde, grünen Blättern, weißen Blüten und roten Äpfeln zerfiel und an ihr vorbeiwirbelte. Das Einzige, was sie deutlich vor Augen hatte, war ein glänzender Apfel, der nur ein kleines Stückchen außer Reichweite hing.
»Alex?«, rief Evie, doch er gab keine Antwort.
Evie holte tief Luft. Hinter ihr brauste der Wind durch Vaters Apfelgarten, als wollte er sie zurückpfeifen, aber der Apfel vor ihren Augen schaukelte sanft hin und her.
Sie wollte es wissen. Wenn ihre Mom hier irgendwo war, würde sie sie finden.
Evie streckte die Hand aus und pflückte den Apfel. Sofort wich der Baum zurück und schrumpfte zu einem fernen verschwommenen Fleck am Ende eines Tunnels aus wirbelnden Blütenblättern. Evie presste den Apfel an ihre Lippen und trat mit einem Schritt mitten in die Fata Morgana hinein. Sie biss in die säuerliche Schale und der süße Saft rann ihre Kehle hinunter. Noch bevor sie Luft holen konnte, befand sie sich in einem Tunnel und taumelte davon. Sie fiel und stürzte wie aus großer Höhe und es dauerte sehr lange, bis sie unten angekommen war.
Als Evie die Augen aufmachte, staunte sie, denn sie befand sich immer noch in ihrem Apfelgarten. Doch alle Bäume standen in voller Blüte. Nicht nur ihr Zauberbaum, sondern alle Apfelbäume blühten. Sie lag auf einem Bett aus Moos, auf dem Hunderte von Blumen wuchsen. Der weite Himmel über ihr war strahlend blau und das Gras schimmerte saftig und grün.
Wo war sie?
Evie erhob sich. Die Wärme streichelte ihre Haut, und sie atmete tief den Duft ein, von dem die Luft erfüllt war. Dann drehte sie sich im Kreis und sah sich die Umgebung an.
»Mom?«, rief sie und sah sich nach einer Stelle um, an der sich ihre Mutter versteckt haben konnte, um herauszustürzen und Evie zu umarmen und zu küssen. Doch statt ihrer Mutter war es Alex, der aus einem dichten Büschel Sonnenblumen heraussprang.
»Na, bist du jetzt nicht froh, dass ich den Apfel gegessen habe?«, fragte er. Er zog die dicke schwarze Winterjacke aus, die er seit ihrer ersten Begegnung jeden Tag getragen hatte, und warf sie auf den Boden.
Auch Evie nahm ihren Mantel ab und ließ ihn neben seine Jacke fallen. »Hast du irgendwo meine Mutter gesehen?«, wollte sie wissen, doch Alex schüttelte den Kopf.
»Noch nicht«, sagte er und als sein Blick auf einen Apfel fiel, der im hohen Gras lag, rannte er hin und kickte ihn gekonnt zwischen den Baumstämmen und den beiden größten Sonnenblumen hindurch.
»Tor!« Er
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