Evies Garten (German Edition)
bei ihnen bleiben?«
»Nein«, sagte Alex. »Es ist nicht mehr so, wie es mal war. Früher haben wir alles Mögliche miteinander gemacht – zum Beispiel hat mein Vater mir Skifahren beigebracht und meine Mutter hat jeden Tag nach der Schule Monopoly mit mir gespielt. Aber jetzt sehen sie mich nicht mal mehr an. Es ist einfach nicht fair.«
»Ich weiß«, sagte Evie. Sie wusste es wirklich. Es war nicht fair. Aber vielleicht würde durch Rodneys Geschenk jetzt alles besser werden.
»Alex«, fragte sie, während das trockene Gras unter ihren Füßen raschelte, »wie warst du so, als du noch gelebt hast?«
»Perfekt. So wie jetzt auch.«
Evie verdrehte die Augen. »Ich meine im Ernst.«
Diesmal dachte Alex über ihre Frage nach. »Ich konnte jeden zum Lachen bringen, egal was war. Und einmal habe ich einen Preis für die beste eigene Kurzgeschichte gewonnen. Sie war sogar in der Schülerzeitung. Außerdem habe ich dauernd gelesen – sogar Bücher, mit denen Ma nicht einverstanden war.«
»Meine Mom und ich haben uns jeden Abend etwas vorgelesen«, erzählte Evie. »Manchmal, wenn sie nicht da war, hab ich das Ende der Geschichte heimlich gelesen, und wenn wir dann zum Schluss gekommen sind, hab ich so getan, als wäre ich total überrascht.«
»Einmal«, erzählte Alex plötzlich eifrig, »habe ich mich einen ganzen Tag lang verkrümelt, weil ich in der Schule was ausgefressen hatte. Aber in Wirklichkeit hab ich mich die ganze Zeit nur oben unter meinem Bett versteckt.«
»Was hattest du denn angestellt?«
»Ich hab ein Furzkissen mit in die Schule gebracht und auf den Stuhl des Lehrers gelegt.«
Evie lachte laut auf. »Hat es funktioniert?«
»Nein«, behauptete er, doch er grinste von einem Ohr bis zum anderen.
Evie versuchte, sich an das letzte Mal zu erinnern, als sie etwas ausgefressen hatte.
»Vater und ich haben mal den halben Plätzchenteig aufgegessen. Uns ist davon schlecht geworden, und Mom war total wütend auf uns.«
»Plätzchenteig war mein Lieblingsessen«, sagte Alex. »Und Pizza und Hähnchen und Tacos und …«
»Hey! Wenn es mehr als eines ist, ist es doch kein Lieblingsessen mehr!«
Alex lachte, aber dann wurde er wieder nachdenklich. »Wie lange ist es eigentlich her, dass deine Mutter gestorben ist?«
»Zehn Monate«, sagte Evie.
»Wie schaffst du es, ohne sie zu leben?«
Evie betrachtete die Bäume, die immer dunkler wurden. »Manchmal will ich es gar nicht.«
Alex nickte, als könnte er sie gut verstehen. »Nachts gehe ich nach Hause und sitze neben meinen Eltern, auch wenn sie mich nicht sehen können. Meine Mutter ist so traurig, dass sie nicht mehr weiterleben will, und vielleicht wird sie das auch nicht.«
»Sie wird nicht sterben«, sagte Evie, die nur zu gut wusste, was er meinte. »Es fühlt sich bloß so an.«
»Ich versuche ihr zu sagen, dass ich da bin, aber sie hört mich nicht.«
Evie atmete tief ein. »Ich wünschte, meine Mutter wäre hier.«
»Woher willst du wissen, dass sie es nicht ist? Vielleicht siehst du sie nur nicht.«
Evie schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht. Ich habe sie gebeten, mir ein Zeichen zu geben, falls sie hier ist, aber sie hat mir bis jetzt noch keins geschickt.«
»Ich schicke meinen Leuten auch Zeichen«, erklärte Alex. »Jede Menge, aber keiner bemerkt sie.«
»Echt?«, fragte Evie und duckte sich unter einen Ast. »Was für Zeichen denn?«
»Abschiedszeichen. Damit sie nicht traurig sind, wenn ich mal ganz weg bin. Ich habe all mein Zeug aus meiner Kommode geholt und auf den Friedhof gebracht – Sachen wie Briefe und mein Tagebuch –, aber meine Mutter kommt nicht her, und mein Vater lässt meine Mutter nicht aus den Augen. Keiner hat was gemerkt, und so habe ich alles wieder in die Schublade zurückgelegt. Und ich habe meiner Mutter ein selbst gemachtes Geschenk vor die Haustür gelegt, aber auch das hat sie nicht mitgekriegt.«
»Was für ein Geschenk?«
»Ein Herz aus Holz, auf dem ›Ich hab dich lieb‹ steht.«
Tränen stiegen Evie in die Augen. »Wie traurig«, sagte sie, und ihr fiel die Geburtstagskarte ihrer Mutter wieder ein. »Aber vielleicht hat deine Mutter es doch gesehen und es nur für später aufgehoben.«
»Meinst du?«, fragte Alex. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ist auch egal«, sagte er, aber er wirkte nicht so, als wäre es ihm wirklich egal.
Sie gingen um eine Biegung. Jetzt wurde der Boden abschüssig, und gerade als Evie ihn trösten wollte, stieß sie mit dem Fuß gegen einen
Weitere Kostenlose Bücher