Evies Garten (German Edition)
Jeder Muskel in ihrem Körper ächzte vor Anspannung, und ihre Haare wehten wild hinter ihr her.
Trotz ihrer langen Beine blieb sein Vorsprung zu groß. Alex sauste schneller dahin, als sie je einen Menschen hatte rennen sehen. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob sie ihm noch folgte. Es war, als würde ihn etwas magisch anziehen. Evie konnte ihn nicht einholen, egal wie schnell sie rannte.
Erst als sie die Brombeerhecke hinter dem Friedhof erreicht hatten, blieb er so plötzlich stehen, dass beide fast gestürzt wären. Evie keuchte und hatte Seitenstechen, doch Alex zwängte sich durch die Sträucher, bis er die gesuchte Stelle gefunden hatte.
»Irgendwo hier muss doch meine geheime Abkürzung sein«, murmelte er und suchte konzentriert zwischen den Brombeeren. Evie dachte schon, er würde den Rest des Tages in der kratzigen Hecke herumsuchen, als sich schließlich die Sträucher teilten und ein schmaler Trampelpfad vor ihnen auftauchte.
»Hast du das gesehen?«, fragte Alex und ballte die Hand zur Faust. »Ich wusste doch, dass ich es kann!«
Er zwängte sich zwischen den Brombeersträuchern durch. Evie ging hinterher und spürte förmlich, wie die Ranken sich sofort hinter ihren Fersen schlossen. Die ganze Hecke erinnerte sie auf einmal an die Grünlilie, und ihr Herz begann heftig zu klopfen, doch so schnell, wie sie hineingegangen waren, waren sie auch schon wieder auf der anderen Seite der Hecke. Vor ihnen lag eine weite, gepflegte Rasenfläche.
»Wow«, keuchte Evie. »Hier hast du gewohnt?«
Das Haus vor ihnen war riesengroß. Es war mit denselben winzigen Blüten bedeckt wie ihr eigenes, sodass es rundum weiß schimmerte. Hohe Säulen standen davor, und in der Mitte der kreisrunden Auffahrt plätscherte ein Brunnen.
»Ja«, sagte Alex. Er überquerte den Rasen und stieg die Stufen zur Haustür hinauf. »Mein Vater hat das Haus schon vor Jahren gekauft, um dem Stress in der Großstadt zu entkommen. Es ist das größte Haus in der Gegend, aber normalerweise ist es nicht so …« Er runzelte die Stirn.
»… hell«, ergänzte Evie und dachte daran, wie ihr Haus vorher ausgesehen hatte. Alex blieb stehen und musterte alles so, als würde er es zum ersten Mal sehen.
»Der Brunnen war seit über einem Jahr nicht mehr in Betrieb«, stellte er erstaunt fest. »Seit ich krank geworden bin. Früher habe ich immer so gern zugesehen, wie die Wassertropfen beim Herabfallen Muster gebildet haben. Damals gab es noch nichts Trauriges oder …«
Für einen Augenblick legte sich ein düsterer Schleier auf ihn, so wie der schwarze Mantel, der vorher seine Schultern umhüllt hatte, doch gleich darauf verschwand der Schleier wieder. Alex drückte die Türklinke hinunter und spähte ins Innere des Hauses. Er lachte und schüttelte den Rest des düsteren Gefühls ab, dann riss er die Haustür weit auf und rannte die breite Wendeltreppe hinauf, noch bevor Evie ihm folgen konnte.
»Warte auf mich!«, rief sie ihm nach, doch Alex war schon verschwunden.
Sie seufzte und trat über die Türschwelle.
»Hallo?«, rief sie, doch natürlich antwortete niemand.
Das Innere des Hauses war so hoch und weit wie ein Lagerhaus. Es war kühl und roch nach Rosen. Es standen zwar überall erlesene Tische und Stühle, Schreibtische und Sofas und Wanduhren, und an den Wänden hingen Gemälde in goldenen Rahmen, doch die wahre Schönheit des Hauses waren die großzügigen Räume mit ihren hohen Decken, breiten Fenstern und glänzenden Parkettböden. Evie ging in den ersten Raum, den sie sah. Es war ein riesiges Speisezimmer. In der Mitte der Decke hing ein Kristalllüster, und um einen Tisch herum standen Stühle mit roten Samtkissen. Vorsichtig strich sie mit der Hand über den weichen Stoff.
Sie verließ das Esszimmer und wanderte den Flur entlang, bis sie ein großes Wohnzimmer fand. Sie warf auf der Suche nach einem menschlichen Wesen – irgendeinem Menschen – einen Blick hinein, doch das Zimmer war leer. Evie starrte die raumhohen Bücherregale an und fragte sich, ob Alex irgendeines dieser Bücher gelesen hatte, doch gleich darauf wurde ihr Blick von zwei riesigen Bilderrahmen angezogen, die mit schwarzen Tüchern zugehängt waren.
Evie lief auf Zehenspitzen zum ersten Bild und blieb davor stehen. Sie hob einen Zipfel des Tuchs hoch, um einen Blick auf das Bild zu werfen, doch es war so dunkel, dass sie nichts erkennen konnte. Sie hob das Tuch höher und noch ein Stück höher, bis es
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