Evil - Das Böse
selbst auch in Ruhe gelassen werden. So wäre es das Beste für alle. Man könne doch wenigstens einen Versuch machen, ein Halbjahr lang, nicht wahr. Und wenn es gut ginge, könne man später auch über den Arrest verhandeln, den Erik sich eingefangen habe. Es sei in gewisser Hinsicht auch nicht richtig, dass man jemandem so viel Arrest aufbrumme, dass es bis über das Abitur hinaus reiche. Nach nur einem ruhigen Halbjahr könne man vielleicht den Beschluss fassen, die restliche Strafe zu erlassen.
Damit wäre allen gedient. Erik würde seine Ruhe haben und sich die Prügel ersparen, die der Rat ihm sonst verpassen müsste. Und der Rat könnte sich wichtigeren Dingen widmen, als ständig darüber nachzudenken, wie man Erik fertig machen konnte. Auf der Mittelschule würde es ruhiger werden - mit einem solchen Kompromiss wäre, wie gesagt, allen gedient. Wenn er freilich nicht auf diesen Vorschlag einginge, dann würde das den offenen Konflikt bedeuten, und er wäre der Hauptleidtragende dabei.
Er solle sich die Sache während der Weihnachtsferien wenigstens überlegen.
»Etwas stimmt an dem Vorschlag nicht, der stinkt«, sagte Pierre. »Die schlagen eine Art Gleichgewicht des Schreckens zwischen dir und dem Rat vor, aber es darf nicht bekannt werden, dass ihr euch geeinigt habt?«
»Ja, so ungefähr hab ich’s verstanden.«
»Die scheißen auf dich, wenn du auf sie scheißt. Das heißt, du hast gewonnen, das hätte ich nie gedacht.«
»Ich auch nicht, ich meine, nicht, dass es so leicht gehen würde. Trotzdem ist die Sache irgendwie faul. Sie wollen nur mit mir Frieden schließen, damit sie mit allen anderen auf der Mittelschule machen können, was sie wollen. Sie scheinen fast selbst an meinen schädlichen ›Sozieinfluss‹ zu glauben, oder wie sie es nennen.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich weiß nicht. Mir die Sache über Weihnachten überlegen. Ich fahr nach Hause in den Weihnachtsfrieden und zu meinem eigenen kleinen Präfekten, meinem Vater, du weißt schon, da bin ich zum Frühlingshalbjahr bestimmt passend milde gestimmt.«
Die Weihnachtsferien, ach ja. Eins hatte Pierre noch nicht erzählt. Er hatte nichts sagen wollen, ehe alles geklärt war. Jedenfalls würde sein Vater zu Weihnachten aus der Schweiz nach Hause kommen. Sie wollten die ganzen Ferien im Ferienhaus in Sälen verbringen. Pierres Vater würde ihn mit dem Wagen abholen und sie würden direkt nach Sälen fahren. Ja, also, Erik sei eingeladen, wenn er wolle. Dann brauche er über Weihnachten nicht nach Hause zu fahren.
Eine Woche später begannen die Ferien. Nach dem Choralgesang wurden Preise für Leistungen im Unterricht und beim Sport verteilt. Als Erik als bester Schwimmer der Schule den Lewenheusen’schen Pokal entgegennahm, waren vereinzelte Buhrufe zu hören.
Erik steckte sein Zeugnis in einen Briefumschlag und schrieb die Adresse seiner Eltern darauf. Dann wurden sie von Pierres Vater abgeholt.
Das Flüstern der Sperlingskäuze war in der Winternacht einen Kilometer weit zu hören.
Es war Ende Februar. Erik und Pierre waren zwei Stunden hinter Kranich hergelaufen, bis sie dem Männchen nahe genug gekommen waren, um das Nest zu finden. Die Sperlingskäuze brüteten in einem Loch in einer großen Espe, drei Kilometer von der Schule entfernt in einem Wäldchen.
Der Biologielehrer trug seinen für einen Vogelnarren nahe liegenden Spitznamen mit großer Gelassenheit; man durfte ihn sogar in den Stunden Kranich nennen.
Erik und Pierre, die für das nächste Zeugnis die Spitzennote in Biologie anstrebten, hatten die Extraaufgabe, im Umkreis von fünf Kilometern um die Schule so viele Vogelarten wie möglich zu beobachten. Und da die Sperlingskäuze schon im Februar brüten, kamen sie als Erstes an die Reihe. »Extraaufgabe« war allerdings ein bisschen übertrieben: Kranich hatte selbst drei Nächte mit ihnen draußen verbracht, um die Vögel aufzuspüren.
Es war Vollmond, fester Schnee und sechs Grad unter null. Sie kamen dem Sperlingskauz so nahe, dass sie ihn im Mondlicht sehen konnten. Es war unbegreiflich, dass der Vogel sich von ihnen nicht stören ließ, obwohl er ihre knirschenden Schritte im Schnee gehört haben musste.
»Das lässt sich durch den Liebesrausch erklären«, flüsterte Kranich, »der Trieb ist so stark, dass er die normale Vorsicht der Tiere aufhebt. Ein balzender Auerhahn kann dermaßen in Erregung geraten, dass er sich sogar über Vieh oder Menschen hermacht. Der Geschlechtstrieb schaltet die
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