Evil
geglaubt hatte, es irgendwie durchstehen zu können.
Es war unfair und falsch, so zu denken, aber ich glaubte sie zu verstehen.
Sie hatte sich etwas vorgemacht – und jetzt war ihr guter, wacher Verstand böse auf sich selbst. Wie konnte ich nur so dumm sein? Fast als hätte sie ihre Strafe verdient. Sie hatte sich vorgemacht, dass Ruth und die anderen Menschen wie sie waren und dass sie deshalb eine bestimmte Grenze nicht überschreiten würden. Nie. Doch das stimmte nicht. Sie waren nicht so wie sie. Das hatte sie jetzt erkannt. Zu spät.
Ich beobachtete die bohrenden Finger über der Narbe.
Blut sickerte durch das Hemd. Noch nicht besonders viel. Doch so traurig es war, später musste ich ihr vielleicht mit dem Stoff wieder die Hände zusammenbinden, um sie zurückzuhalten.
Oben klingelte das Telefon.
»Geht mal einer ran.« Ruth. Schritte durchquerten das Zimmer. Ich hörte Willies Stimme und nach einer kurzen Pause Ruths Stimme, die ins Telefon sprach.
Ich überlegte, wie spät es wohl war. Ich blickte auf die winzige Kerze und fragte mich, wie lang sie noch halten würde.
Megs Hand glitt von der Narbe weg.
Sie stieß stöhnend die Luft aus. Ihre Augenlider flatterten.
»Meg?«
Sie öffnete die Augen. Sie waren ganz glasig vor Schmerz.
Ihre Finger tasteten wieder nach der Narbe.
»Nicht, mach das nicht.«
Verständnislos schaute sie mich an. Dann nahm sie die Hand weg.
»David?«
»Ja, ich bin's. Und Susan ist auch da.«
Susan beugte sich vor, damit sie sie sehen konnte. Megs Mundwinkel zogen sich zum blassen Abglanz eines Lächelns nach oben. Doch selbst das schien ihr Schmerzen zu bereiten.
Sie stöhnte. »O Gott, das tut so weh.«
»Du darfst dich nicht bewegen. Ich weiß, dass es wehtut.«
Ich zog ihr das Laken hinauf bis zum Kinn.
»Kann ich … kann ich etwas für dich …?«
»Nein. Lass mich einfach … O Gott.«
»Meg?« Susan zitterte. Sie streckte an mir vorbei den Arm aus, konnte sie aber nicht ganz erreichen. »Es tut mir Leid, Meg. Es tut mir so Leid.«
»Schon gut, Susie. Wir haben es probiert. Schon gut. Es ist …«
Man spürte fast, wie sie der Schmerz durchzuckte. Wie ein Stromschlag.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Immer wieder wanderte mein Blick zur Kerze, als ob ich von ihr eine Eingebung erwartete. Doch es kam nichts.
»Wo … wo sind sie?«
»Oben.«
»Werden sie oben bleiben? Ist es … Nacht?«
»Fast. Ungefähr Abendessenszeit. Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, ob sie oben bleiben.«
»Ich kann nicht mehr … David. Mehr halte ich nicht aus, weißt du?«
»Ich weiß.«
»Ich kann nicht.«
»Ruh dich aus. Du musst dich ausruhen.« Ich schüttelte den Kopf.
»Was?«
»Wenn wir nur was hätten …«
»Was?«
»Was, mit dem wir ihnen wehtun. Damit wir hier rauskommen.«
»Es gibt nichts. Nichts. Du hast keine Ahnung, wie viele Nächte ich …«
»Wir haben das da«, sagte Susan.
Sie hielt die Armschiene hoch.
Ich sah sie mir an. Susan hatte Recht. Die Schiene war aus Leichtaluminium, aber wenn man sie zusammenklappte und sie am Ende packte, konnte man damit zuschlagen.
Doch das reichte nicht. Nicht gegen Willie und Donny gleichzeitig. Und auch noch Ruth. Die durfte man nicht unterschätzen. Vielleicht wenn sie so freundlich waren und nacheinander hereinspazierten, mit ein paar Minuten Abstand dazwischen, hätte ich es ausprobieren können. Aber das war reichlich unwahrscheinlich. Außerdem war ich sowieso nie ein großer Kämpfer.
Eddie wäre der Richtige dafür gewesen.
Wir mussten uns etwas anderes einfallen lassen.
Ich schaute mich um. Sie hatten so ziemlich alles rausgeschafft. Den Feuerlöscher, das Radio, die Konservenkartons, sogar der Wecker und die Luftpumpe für die Matratzen waren verschwunden. Auch die Wäscheleinen, mit denen sie uns gefesselt hatten, hatten sie mitgenommen. Wir hatten nur den Arbeitstisch – der so schwer war, dass man ihn kaum bewegen konnte –, die Matratzen, Megs Laken, ihren Plastikbecher und die Kleider am Leib. Und die Streichhölzer und die Kerze.
Plötzlich wusste ich, wozu man die Streichhölzer und die Kerze benutzen konnte.
Zumindest würden sie dann herunterkommen, wenn wir es wollten, und nicht, wann es ihnen passte. Wir konnten sie verwirren und überraschen. Das war immerhin etwas. Etwas.
Ich holte tief Luft. In mir formte sich ein Plan.
»Okay. Wollt ihr was ausprobieren?«
Susan nickte. Auch Meg, ganz schwach.
»Ich weiß nicht, ob es hinhaut. Aber es ist möglich.«
»Los, na
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