Evolution, Zivilisation und Verschwendung
Menschen aber für Biologen meist eher ein Tabuthema sind, würde diese Tatsache für sich allein noch nicht entscheidend sein. Da könnte eher der Umstand, dass das neue Paradigma zahlreiche andere Evolutionen – zum Beispiel den technischen oder wissenschaftlichen Fortschritt – recht einfach und schlüssig erklären kann, den endgültigen Ausschlag geben.
Gemäß Thomas S. Kuhn ist wissenschaftlicher Fortschritt eine Folge „revolutionärer Selektionen“, trägt also darwinistische Züge (Kuhn 1976: 184):
Die Analogie zwischen der Evolution von Organismen und der Evolution wissenschaftlicher Ideen kann leicht zu weit getrieben werden. Doch im Hinblick auf die Fragen dieses Schlussabschnitts ist sie fast vollkommen. Der Prozess (…) ist die durch einen Konflikt innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft herbeigeführte Selektion des geeigneten Weges, die zukünftige Wissenschaft zu betreiben. Das Ergebnis einer Folge solcher revolutionären Selektionen, die mit Perioden normaler Forschung abwechselten, ist das wunderbar geeignete System von Werkzeugen, das wir moderne wissenschaftliche Erkenntnis nennen. Die aufeinanderfolgenden Stadien dieses Entwicklungsprozesses sind durch eine Steigerung der Artikulation und Spezialisierung markiert. Und der ganze Prozess kann so vor sich gegangen sein, wie wir es heute von der biologischen Evolution annehmen, ohne den Vorteil eines wohlbestimmten Ziels, einer überzeitlichen, feststehenden wissenschaftlichen Wahrheit, von der jedes neue Stadium der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis ein besseres Abbild ist.
Leider kann die Evolution wissenschaftlicher Ideen auf der von Thomas S. Kuhn beschriebenen Weise nicht funktionieren. Es wurde im vorliegenden Buch bereits hinreichend oft erläutert, dass nur selbsterhaltende Systeme mit zusätzlichen Eigenschaften eigendynamisch evolvieren können. In diesem Sinne muss dann auch die Evolution der Wissenschaften als ein Aspekt der ihr unterliegenden Evolution von Forschern (Teams/Instituten) innerhalb von wissenschaftlichen Gemeinschaften verstanden werden.
Natürlich könnte man die Forscher-Evolution systemtheoretisch auf eine noch höhere Ebene heben, indem man zum Beispiel behauptete, bei wissenschaftlichen Gemeinschaften handele es sich selbst um Systeme mit eigenständigen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen. Wissenschaftliche Erkenntnisse wären in diesem Sinne dann eher als Produkte ganzer Wissenschaftsdisziplinen zu verstehen. Beispielsweise könnte die sehr heftige Kontroverse zwischen der Soziologie und der Soziobiologie um die Deutungshoheit in bestimmten wissenschaftlichen Fragen (Alcock 2003) als eine Konkurrenz zwischen ganzen Disziplinen gedeutet werden. Allerdings soll dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Buch nicht weiter vertieft werden.
Die Evolution des Wissens und der menschlichen Erkenntnis wird in der Literatur – wie bereits erwähnt – unter dem Namen
Evolutionäre Erkenntnistheorie
thematisiert. Allerdings verbergen sich dahinter zwei recht unterschiedliche Projekte (Lenzen 2003: 128; Vollmer 1987):
Einerseits geht es darum, die Entwicklung der Wissenschaften als einen evolutionären Prozess zu beschreiben.
Dieser Ansatz geht auf Thomas Henry Huxley zurück, der die Ansicht vertrat, wissenschaftliche Theorien konkurrierten wie Organismen ums Überleben. In dieser Denktradition befinden sich auch einige Überlegungen Karl R. Poppers (Lenzen 2003: 128). Gleichfalls könnten die obigen Ausführungen Thomas S. Kuhns in diese Richtung interpretiert werden.
Paul Thagard fasst den grundsätzlichen Gedankengang dabei wie folgt zusammen (Thagard 1993: 102ff.):
Scientists generate theories, hypothesis, and concepts; only a few of these variations are judged to be advances over existing views, and these are selected; the selected theories and concepts are transmitted to other scientists through journals, textbooks, and other pedagogic measures.
Auch der vorliegende Abschnitt beschäftigte sich bislang primär mit dieser Thematik. Dabei konnte unter anderem gezeigt werden, dass erst die Systemische Evolutionstheorie die Evolution der Wissenschaften schlüssig beschreiben kann.
Gerhard Vollmer schlug vor, die Entwicklung der Wissenschaften unter dem alternativen Namen
Evolutionäre Wissenschaftstheorie
zu thematisieren (Vollmer 1987: 144).
Andererseits wird behauptet (ich erwähnte es bereits), Menschen könnten deshalb Wissen von der Welt erwerben, weil sich eine solche Kompetenz im
Weitere Kostenlose Bücher