Evolution, Zivilisation und Verschwendung
Gemeinschaft (Population) handelt es sich um eine Gruppe von Wissenschaftlern (Individuen), die sich pausenlos um ihrenSelbsterhalt bemühen. Dies gelingt ihnen natürlich umso leichter, je besser sie an ihren Lebensraum (ihre wissenschaftliche Gemeinschaft auf Basis des aktuell vorherrschenden Paradigmas) angepasst sind. Population und Milieu sind in diesem Falle also praktisch identisch.
Die Anpassung an ein Milieu kann auch als die Kompetenz im Umgang mit dem Lebensraum bezeichnet werden. Ein Wissenschaftler ist also insbesondere dann besonders gut an seinen Lebensraum (seine wissenschaftliche Gemeinschaft) angepasst, wenn er über außerordentlich hohe wissenschaftliche Kompetenzen in seinem Fachgebiet verfügt 124 . Natürlich versucht er diese permanent zu erhalten, denn der Kompetenzerhalt ist die Basis für den Selbsterhalt (und sein Prestige innerhalb der Gruppe). Dazu muss er aber fortlaufend forschen, sich weiterbilden und wissenschaftlich auf dem Laufenden halten, ansonsten würden sich seine bisherigen Kompetenzen sukzessive entwerten (Red-Queen-Hypothese). Da dies allen Mitgliedern seiner wissenschaftlichen Gemeinschaft (Population) so ergeht, kommt es automatisch zum wissenschaftlichen Fortschritt innerhalb der betroffenen Disziplin. Anders gesagt: Das wissenschaftliche Fachgebiet evolviert, und zwar ausschließlich aufgrund der Selbsterhaltungsinteressen der beteiligten Wissenschaftler (Individuen).
Die Wissenschaftler können diesbezüglich mit den Unternehmen bei der technischen Evolution oder den Künstlern bei der kulturellen Evolution verglichen werden: Der Begriff Reproduktion bezieht sich nicht auf deren „leibliche“ Nachkommen (Kinder), sondern auf die Kompetenzen in Bezug auf die wissenschaftliche Gemeinschaft beziehungsweise das wissenschaftliche Fachgebiet (ihr Milieu beziehungsweise ihr Markt). Der Wissenschaftler wird also lediglich in seiner Funktion als Wissenschaftler und nicht als Lebewesen betrachtet. Allerdings altern Wissenschaftler ganz normal wie alle Menschen, weswegen sich ihre persönlichen Kompetenzen mit der Zeit entwerten. Folglich benötigen wissenschaftliche Gemeinschaften auch Prozesse der generellen Erneuerung beziehungsweise zur Heranbildung von Nachwuchswissenschaftlern. Dazu dienen die wissenschaftlichen Ausbildungsprozesse.
Der im „Prinzip Reproduktion“ der
Systemischen Evolutionstheorie
aufgeführte Reproduktionsprozess nimmt dann insgesamt die folgende Gestalt an:
Der Wissenschaftler liest die aktuellen Veröffentlichungen, arbeitet sich gegebenenfalls in einige neue Theorien ein, führt Gespräche mit Fachkollegen, nimmt an Kongressen teil, versucht Forschungsaufträge zu gewinnen, betreibt Forschung, verfasst Artikel und bildet gegebenenfalls neue Wissenschaftler heran, die einmal in seine Fußstapfen treten sollen.
Stellen wir uns nun vor, ein Wissenschaftler habe tatsächlich ein neues Paradigma vorgeschlagen. Ein Paradigmenwechsel wäre aber vermutlich mit einem beträchtlichen Kompetenzverlust bei einem Großteil der Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft verbunden. Auch besäße der vorschlagende Wissenschaftler zunächst einen enormen Startvorteil, dem die anderen möglicherweise ewig hinterher zu rennen hätten. Es darf also durchaus mit einer eher ablehnenden Haltung gegenüber dem neuen Theoriengebäude gerechnet werden. Möglicherweise steigen zunächst einige jüngere Wissenschaftler auf das neue Paradigma um, denn sie könnten besonders stark von ihm profitieren, und zwar ohne gleichzeitig zu viel von ihrem Prestige und ihren Kompetenzen zu verlieren – ich erwähnte es bereits.
Ein erfolgreicher Paradigmenwechsel dürfte dann relativ wahrscheinlich sein, wenn das neue Theoriengebäude einige wesentliche Phänomene prognostizieren oder erläutern kann, die anderweitig überhaupt nicht erklärbar sind. Auch könnte es ganz neue Anwendungsbereiche erschließen, die gegebenenfalls sogar für finanzkräftige Dritte von Interesse sind.
Nehmen wir nun im Rahmen unseres Beispiels an, unser ParadigmenGründer habe vorgeschlagen, nicht die natürliche Auslese bewirke die Evolution des Lebens, sondern die den Individuen innewohnenden kompetenzneutralen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen.
Für die Biologie würde das neue Paradigma zunächst kaum Vorteile bieten. Allerdings könnte die Theorie das sich vom Tierreich sehr stark unterscheidende Fortpflanzungsverhalten moderner menschlicher Gesellschaften plausibel erklären. Da
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