Evolution, Zivilisation und Verschwendung
menschliche Erkenntnisapparat ein Ergebnis der biologischen Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an die Welt herausgebildet haben (Vollmer 1995: 120). Allerdings stand zunächst stets das Überleben an vorderster Stelle (Vollmer 1995: 128f.):
Unser Gehirn ist freilich nicht als Erkenntnisorgan, sondern als Überlebensorgan entstanden. Tatsächlich taugt es jedoch für mehr. (…) Wissenschaftliche Erkenntnis ist, biologisch gesehen, ein Nebenprodukt allgemeiner Fähigkeiten wie Abstraktion, Generalisation, Begriffsbildung, logisches Schließen.
Man könnte nun aber den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess als Teil dieser evolutionären Adaption des Erkennens verstehen. Irgendein Forschergehirn passt vielleicht – aus was für Gründen auch immer – ein klein wenig besser auf die spezialisierte Welt unserer Wissenschaftsgemeinschaft. Gleichzeitig nimmt es auch noch die offenen Probleme ernst. Und schon ist es in der Lage, diese Welt etwas genauer zu projizieren und zu beschreiben, als dies andere Gehirne vor ihm konnten. Es wird dann ein neues Paradigma in die Welt setzen, was aber von den meisten Forschern seiner wissenschaftlichen Gemeinschaft zunächst mit Zurückhaltung aufgenommen wird, zumal deren Gehirne – einige wenige ausgenommen – zu einer entsprechenden Projektion aktuell noch nicht fähig sind.
Die denkbare weitere Entwicklung wurde ebenfalls von Kuhn beschrieben (Kuhn 1976: 169):
Was geschieht, ist eine wachsende Verlagerung der fachwissenschaftlichen Bindungen und nicht die Bekehrung einer ganzen Gruppe.
Zu Beginn hat ein neuer Paradigmakandidat vielleicht nur wenige Befürworter, und gelegentlich mögen ihre Motive fragwürdig sein. Trotzdem werden sie, falls sie kompetent sind, ihn verbessern, seine Möglichkeiten erforschen und zeigen, was es hieße, zu der von ihm geleiteten Gemeinschaft zu gehören. Und dabei wird, falls das Paradigma dazu bestimmt ist, seinen Kampf zu gewinnen, die Zahl und Stärke der überzeugenden Argumente zu seinen Gunsten wachsen. Mehr und mehr Wissenschaftlerwerden dann bekehrt werden, und die Erforschung des neuen Paradigmas wird fortschreiten. Allmählich wird die Zahl der Experimente, Instrumente, Artikel und Bücher, die auf dem Paradigma fußen, wachsen. Überzeugt von der Fruchtbarkeit der neuen Anschauung, werden immer mehr die neue Art der Ausübung normaler Wissenschaft annehmen, bis schließlich nur einige ältere Sturköpfe übrig bleiben.
Kommt es zur Durchsetzung eines neuen Paradigmas, dann kann das für die betroffene Wissenschaft und insbesondere die Hauptvertreter der bisherigen Lehrmeinung gravierende Folgen haben (Kuhn 1976: 178):
Wenn eine wissenschaftliche Gemeinschaft ein veraltetes Paradigma abstößt, so verwirft sie auch gleichzeitig, als passendes Gegenstück fachwissenschaftlicher Prüfung, die meisten Bücher und Artikel, in denen dieses Paradigma Gestalt gewonnen hatte.
Ich möchte an dieser Stelle zur
Systemischen Evolutionstheorie
zurückkehren und versuchen, deren Prinzipien auf unsere Wissenschaftsgemeinschaft anzuwenden.
Dazu zunächst eine kleine Vorbemerkung: Es könnte von Vorteil sein, wenn Sie sich in den folgenden Ausführungen den einzelnen Wissenschaftler nicht als Lebewesen, sondern als ein soziales System, bestehend aus einer einzigen Person – nämlich ihn selbst –, vorstellen. Da der Wissenschaftler als Mensch altert, wird es irgendwann zwangsläufig zu einem Kompetenzverlust seines sozialen Systems kommen. Später wird es sogar ganz verschwinden. Dies wäre nicht Fall, wenn es hier um ganze Forschungsinstitute ginge. Diese könnten nämlich praktisch ewig fortbestehen. Von diesem Fall möchte ich jedoch absehen. Es soll einzig und allein um einzelne Wissenschaftler gehen.
Der Reproduktionsprozess unserer Population „wissenschaftliche Gemeinschaft“ wird dann so aussehen, dass sich zunächst einmal das soziale System „Wissenschaftler“ intern reproduziert. Anders gesagt: Der Wissenschaftler forscht und hält sich wissenschaftlich auf dem Laufenden. Auf der anderen Seite benötigen wir aber auch einen Prozess zur Variationserneuerung, das heißt zur Heranbildung neuer, junger Wissenschaftler. Dazu dient der wissenschaftliche Ausbildungsprozess. Nach dieser erläuternden Vorbemerkung möchte ich nun mit der Anwendung der Systemischen Evolutionstheorie auf den Prozess der Wissenschaften fortfahren.
Bei einer wissenschaftlichen
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