Evolution, Zivilisation und Verschwendung
evolutionären Wettrüsten als vorteilhaft erwiesen hat. Dabei sei der menschliche Erkenntnisapparat selbst ein Ergebnis der Evolution. Subjektive Erkenntnisstrukturen passten deshalb recht gut auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an die reale Welt herausgebildet haben (Lenzen 2003: 129f.).
Dieser Ansatz kann historisch bis zu Darwin zurückverfolgt werden, wurde aber in einer präziseren Form erstmalig von Konrad Lorenz vorgestellt und später von Willard Van Orman Quine, Donald Campbell, Karl R. Popper, Gerhard Vollmer, Rupert Riedl und anderen weiterentwickelt (Vollmer 1995: 107).
Gerhard Vollmer hebt hervor, dass die Evolutionäre Erkenntnistheorie (2. Zweig in der obigen Liste) auf den Darwinschen Evolutionsmechanismuszurückgeführt werden kann, die Evolutionäre Wissenschaftstheorie dagegen nicht (Vollmer 1987: 147):
Wir werden uns vielmehr damit begnügen, einige der wichtigsten Merkmale der biologischen Evolution hervorzuheben, nämlich Replikation, Vererbung genetischer Information, Variation durch Mutation und Genrekombination und schließlich (und vor allem) differenzielle Reproduktion aufgrund unterschiedlicher Tauglichkeiten (üblicherweise „natürliche Selektion“ genannt). Diese Merkmale sind wesentliche und unverzichtbare Bestandteile der Darwinschen Theorie: Unterschlägt man eines von ihnen, so gibt es überhaupt keine Evolution mehr.
Da nun die Evolutionäre Erkenntnistheorie die Evolution kognitiver Systeme als echten Bestandteil der biologischen Evolution deutet, stützt sie sich fraglos auf die Evolutionstheorie. Die zuvor genannten Prinzipien sind deshalb unauflöslich in das beschreibende und erklärende, explikative und argumentative Gewebe der Evolutionären Erkenntnistheorie eingearbeitet. Diese evolutiven Merkmale finden sich jedoch nicht in der Evolution wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Evolution der Wissenschaft ist trotz aller Ähnlichkeiten, Analogien und Parallelen nicht darwinistisch.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch die Ausführungen des vorliegenden Abschnitts. Letztlich beruhen die meisten Kontroversen dieser Art auf einem grundsätzlichen Mangel der Darwinschen Evolutionstheorie, nämlich über kein systemtheoretisches Fundament zu verfügen. Eine Diskussion wie die von Vollmer oder Kuhn zur Evolution der Wissenschaften und auf Basis der von Thagard beschriebenen Selektionsmechanismen würde sich sofort erübrigen, wenn von vornherein klargestellt würde, dass wissenschaftliche Theorien menschliche Produkte sind und aus diesem Grunde per se nicht evolvieren können. Jeder Versuch einer Erörterung in diese Richtung muss deshalb zwangsläufig scheitern. Auch in der Biologie wird man die Evolution von Äpfeln nur im Zusammenhang mit der grundlegenderen Evolution der Apfelbäume beschreiben und verstehen können.
Der Bezug zwischen Evolutionärer Wissenschaftstheorie und Evolutionärer Erkenntnistheorie wird auch von Thomas S. Kuhn hergestellt. Gleichzeitig stellt er die Frage, warum wissenschaftliche Gemeinschaften überhaupt in der Lage sind, zu Übereinstimmungen zu kommen, wo dies doch in vielen anderen Bereichen nicht gelingt (Kuhn 1976: 184f.):
Jeder, der meiner Argumentation bis hierher gefolgt ist, wird sich trotzdem genötigt fühlen zu fragen, warum der evolutionäre Prozess dennfunktioniere. Wie muss die Natur, und damit auch der Mensch, beschaffen sein, damit Wissenschaft überhaupt möglich ist? Warum sollten wissenschaftliche Gemeinschaften in der Lage sein, eine feste Übereinstimmung zu erzielen, die auf anderen Gebieten nicht erreichbar ist? Warum sollte die Übereinstimmung einen Paradigmawechsel nach dem anderen überdauern? Und warum sollte ein Paradigmawechsel ausnahmslos ein in irgendeinem Sinne vollkommeneres Instrument als die vorher bekannten hervorbringen? Von einem Standpunkt aus sind diese Fragen, außer der ersten, schon beantwortet worden. Aber von einem anderen her gesehen sind sie noch genauso offen wie am Anfang dieses Essays. Nicht nur die wissenschaftliche Gemeinschaft muss von besonderer Art sein. Die Welt, von der diese Gemeinschaft ein Teil ist, muss ebenfalls ganz besondere Eigenschaften haben, und wir wissen noch nicht mehr über sie als zu Beginn. Das Problem – Wie muss die Welt beschaffen sein, damit der Mensch sie erkennen kann? – wurde jedoch nicht erst durch diesen Essay gestellt. Im Gegenteil, es ist so alt wie die Wissenschaft selbst, und es bleibt unbeantwortet.
Allerdings ist Kuhn
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