Evolution, Zivilisation und Verschwendung
Aufmerksamkeit stark auf die krisenauslösenden Probleme konzentriert, und außerdem handelt es sich gewöhnlich um Männer 123 , die so jung oder auf dem von der Krise befallenen Gebiet so neu sind, dass ihre Arbeit sie weniger tief als die meisten ihrer Zeitgenossen an die durch das alte Paradigma bestimmten Weltauffassungen und Regeln gebunden hat.
Alternativ könnte man die Aussagen Kuhns auch wie folgt interpretieren: Junge oder im Sachgebiet neue Wissenschaftler sind in aller Regel in der wissenschaftlichen Gemeinschaft noch nicht sehr etabliert. Sie müssen sich ihr Prestige erst noch erarbeiten und haben davon nur wenig zu verteidigen und zu verlieren. Also könnte für sie auch eine riskante Strategie erfolgversprechend sein. Sie setzen dann alles auf eine Karte und stellen einen Teil des Fundaments der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Frage. In der Praxis könnten sie aber hierdurch bereits frühzeitig in Schwierigkeiten geraten. Wurde das neue Paradigma etwa im Rahmen einer Dissertation entwickelt, dann könnte bei einer Ablehnung der Dissertation auch die weitere wissenschaftliche Karriere des Autors gefährdet sein. Oft spielen deshalb bei der Durchsetzung eines neuen Paradigmas viele weitere Gründe eine entscheidende Rolle, zum Beispiel Unabhängigkeit, Förderung, Glück, Selbstbewusstsein, Ehrgeiz. Es lässt sich jedoch bereits an dieser Stelle festhalten: Ein Prestigezuwachs eines Gruppenmitglieds bedeutet den Prestigeverlusteines anderen. Es handelt sich hierbei um ein Gruppen-Nullsummenspiel (Zahavi/Zahavi 1998: 260). Es ist dann aber davon auszugehen, dass viele Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft einer Durchsetzung eines neuen Paradigmas ausgesprochen ablehnend gegenüberstehen werden, denn es geht ja letztlich um ihr Prestige und damit ihren Selbsterhalt. In den Wissenschaften hält sich zwar spätestens seit Karl R. Popper die Devise „
lasst Theorien sterben anstelle ihrer Anhänger
“ (Vollmer 1987: 145), aber eine solche Maxime dürfte an den Realitäten weit vorbeigehen: Ein Prestigeverlust innerhalb der eigenen Fachdisziplin kann für den betroffenen Wissenschaftler erhebliche negative Folgen bis hin zu deutlichen Einkommensverlusten haben.
So weist Thomas S. Kuhn denn auch darauf hin (Kuhn 1976: 162):
Die Übertragung der Bindung von einem Paradigma auf ein anderes ist eine Konversation, die nicht erzwungen werden kann. Lebenslanger Widerstand, besonders von solchen, deren produktive Laufbahn sie einer älteren Tradition normaler Wissenschaft verpflichtet hat, ist keine Verletzung wissenschaftlicher Normen, sondern ein Hinweis auf das Wesen der wissenschaftlichen Forschung selbst.
Verallgemeinernd könnte man auch sagen: Lebenslanger Widerstand gegen die Durchsetzung eines neuen Paradigmas ist ein Hinweis auf das Wesen des Lebens selbst. Es geht nämlich in diesen Fällen in erster Linie um den eigenen Selbsterhalt und gegebenenfalls noch um die Fortpflanzung.
Thomas S. Kuhn wies aber noch auf ein anderes Charakteristikum der an Paradigmenwechseln bevorzugt beteiligten Personen hin. Er schrieb nämlich, dass deren Aufmerksamkeit meist sehr stark auf die krisenauslösenden Probleme konzentriert sei. Im Rahmen unseres Beispiels wollen wir deshalb noch zusätzlich annehmen, zahlreiche Untersuchungen hätten für moderne menschliche Gesellschaften ein mit der natürlichen Selektion im Widerspruch stehendes Fortpflanzungsverhalten festgestellt. Die Mitglieder unserer Wissenschaftsgemeinschaft kamen daraufhin mehrheitlich zu dem Schluss, dass die Menschen in modernen Gesellschaften eine ‚genetische Äquipotenz’ aufwiesen, und der soziale und damit letztlich reproduktive Wettbewerb ohne evolutionsgenetische Folgen bliebe. Eine Minderheit vertrat dagegen die Auffassung, der moderne Mensch sei ohnehin primär ein Kulturwesen beziehungsweise eine Mem-Maschine, so dass die Gene nun nur noch eine untergeordnete Rolle spielten. Eine dritte Gruppe nahm an, das menschliche Gehirn komme als unbeschriebenes Blatt zur Welt, so dass die Prinzipien der natürlichen Selektion für moderne Gesellschaften überhauptnicht mehr anwendbar seien. Lediglich unser Paradigmen-Wechsler nahm die Datenlage ernst und vermutete folgerichtig, das Problem könnte auch unmittelbar etwas mit dem Prinzip der natürlichen Selektion zu tun haben.
Doch was veranlasste ihn zu diesen Gedanken? Gemäß den Vorstellungen der Evolutionären Erkenntnistheorie (siehe die noch folgenden Ausführungen) ist der
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