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Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Evolution, Zivilisation und Verschwendung

Titel: Evolution, Zivilisation und Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Mersch
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Staat durchsetzen und sicherstellen zu können.
    Mit anderen Worten: Fruchtbare egoistische Arbeiterinnen, die sich möglichst wenig an gemeinschaftlichen Aufgaben beteiligen – und somit die geringsten sozialen Aufwände haben –, verzeichneten den größten Reproduktionserfolg. Ein solcher Staat wäre aber nicht dauerhaft überlebensfähig, denn seine Mitglieder befänden sich schon bald in einer
Rationalitätenfalle
.
    Bei der Sterilität der Arbeiterinnen in Ameisenstaaten handelt es sich folglich in erster Linie um eine
organisatorische Notwendigkeit
, und weniger um eine Konsequenz der
Verwandtenselektion
.
    Wenn man so will, dann haben Ameisenstaaten einen Weg aus dem Gleichberechtigungsdilemma sozialer Gemeinschaften gefunden:
Wie können Weibchen umfangreiche soziale Aufgaben und das Aufziehen eigener Nachkommen miteinander vereinbaren?
Ihre Antwort lautet: Im Grunde gar nicht. Denn mit zunehmenden sozialen Aufgaben verbleibt immer weniger Zeit für die eigene Nachwuchsarbeit.
    Die Lösung der Ameisen lautet: Spezialisierung und sexuelle Arbeitsteilung (siehe Unterabschnitt
Die Vorteile der Sexualität
auf Seite → ). Bei ihnen übernehmen die Arbeiterinnen praktisch alle sozialen Aufgaben, während sich die Königinnen ganz auf die reproduktiven Tätigkeiten konzentrieren. Im übertragenen Sinne könnte man sagen: Arbeiterinnen gehen einer Erwerbsarbeit nach, während für Königinnen die Familienarbeit der Beruf ist (Mersch 2006b; Mersch 2006a; Mersch 2007a; Mersch 2008). Im Gegensatz zu dem in modernen menschlichen Gesellschaften propagierten Vereinbarkeitsmodell (Familie und Beruf sind möglichst miteinander zu vereinbaren) scheint es sich hierbei um ein evolutionär stabiles Konzept zu handeln (siehe dazu auch die Ausführungen im Kapitel
Demographischer Wandel
auf Seite → ).
    Ein sehr plakatives Beispiel eines aus der Verwandtenselektion resultierenden altruistischen Verhaltens wurde von Stephen J. Gould beschrieben (Gould 1984: 223) 139 :
    Meine Schwester hat die Hälfte der Gene mit mir gemeinsam, und das bedeutet nach darwinistischer Rechnung, dass sie die Hälfte von mir ist. Nun nehme ich an, ich gehe mit drei Schwestern die Straße entlang. Es nähert sich ein Monstrum mit eindeutig mörderischer Absicht. Meine Schwestern sehen es nicht. Ich habe nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich gehe auf das Ungeheuer zu, unter Ausstoßung von Verbalinjurien, wodurch ich mein eigenes Schicksal besiegele; oder ich verstecke mich und schaue zu, wie sich das Ungeheuer über meine Schwestern hermacht. Was sollte ich als geübter Spieler des Darwinschen Spiels tun? Die Antwort muss sein: weitergehen und schimpfen – denn dann habe nur ich mich selbst verloren, während meine drei Schwestern mich anderthalbfach repräsentieren. Es ist besser, wenn sie weiterleben und 150 Prozent meiner Gene fortpflanzen. Mein scheinbar altruistischer Akt ist genetisch „selbstsüchtig“, denn er maximiert den Beitrag meiner Gene in der nächsten Generation.
    Andere theoretische Ansätze zur Erklärung kooperativer Verhaltensweisen argumentieren spieltheoretisch, und zwar mit Hilfe des GefangenendilemmaSpiels. Es lässt sich nämlich zeigen, dass Kooperation zwischen zwei unabhängigen, nichtverwandten Individuen dann entstehen kann, wenn für die Beteiligten eine hinreichend große Chance besteht, häufig wieder aufeinander zu treffen (Axelrod 1984: 18f.). In diesem Fall ist TIT FOR TAT („wie du mir, so ich dir“,
Fairnessprinzip
) für beide Seiten die erfolgversprechendste Taktik. Sind sich die Partner dagegen sicher, dass sie nureine feste Zahl an Begegnungen haben werden, ist eine nichtkooperative Strategie die bessere Wahl.
    Im Grunde wird der Begriff der Kooperation dabei auf einen reziproken Altruismus reduziert, denn die beteiligten Seiten vollziehen zwar für sich betrachtet altruistische Handlungen, doch gehen sie insgeheim von einer zeitnahen und gleichwertigen Erwiderung der erbrachten Leistungen aus. Von außen betrachtet sieht die beiderseitige Interaktion dann wie eine Kooperation aus.
    Auf Basis solcher spieltheoretischen Ergebnisse besagt die Theorie des reziproken Altruismus verallgemeinernd, dass sich psychologische Mechanismen, die Nicht-Verwandten einen Vorteil verschaffen, dann entwickeln können, wenn die Begünstigten die ihnen gewährten Vorteile zu einem späteren Zeitpunkt erwidern (Buss 2004: 336). Allerdings ließ sich in Versuchssituationen bislang nicht nachweisen, dass Tiere bei

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