Evolution, Zivilisation und Verschwendung
sind. Den Vertretern dieses Ansatzes zufolge kennt die Evolution keine privilegierten Replikatoren, die allein für die stammesgeschichtliche Weiterentwicklung von Organismen verantwortlich wären. So gäbe es insbesondere auch keinen in den Genen verankerten Plan, der präzise festlegt, wie sich ein Individuum im Detail zu entwickeln hat (Lenzen 2003: 83f.).
Im Gegensatz zur Theorie der Entwicklungssysteme gemäß Sterelny und Griffiths scheinen mir die davor genannten Ansätze, und zwar ganz gleich ob nun eher Replikatoren oder Vererbungssysteme im Vordergrund stehen,für die Analyse und Beschreibung evolutiver Prozesse nicht wirklich zielführend zu sein. Replikatoren und Vererbungssysteme sind sicherlich wichtig und unverzichtbar, wenn es um eine Erklärung der präzisen technischen Abläufe evolutiver Prozesse geht, zum Beispiel um die Vererbung eines Merkmals wie etwa die Augenfarbe.
Bei einer Erstanalyse evolutiver Prozesse lenken sie jedoch das Augenmerk zu sehr auf die technischen Aspekte und weniger auf den eigentlichen Gegenstand der Evolution.
Richard Dawkins empfiehlt, die Analyse evolutiver Prozesse zunächst mit der Suche nach geeigneten Replikatoren zu beginnen (Dawkins 2007: 85). Von diesen erwartet er insbesondere, dass sie die Eigenschaften Langlebigkeit, Fruchtbarkeit (Vermehrungsfähigkeit) und Kopiergenauigkeit besitzen (Dawkins 2007: 85). Ferner sollten sie untereinander um den Zugang zu einer knappen Ressource konkurrieren, zum Beispiel dem Speicherplatz auf Chromosomen im Falle der Gene oder der menschlichen Aufmerksamkeit bei den Memen.
Doch wie will man auf diese Weise die Evolution von Mobiltelefonen oder generell des menschlichen Wissens erklären? Mobiltelefone etwa lassen sich in der Produktion sehr leicht vervielfältigen. Aber evolvieren sie auch bereits durch diesen Reproduktionsvorgang?
Im vorliegenden Buch wird ein systemtheoretischer Ansatz (
Systemische Evolutionstheorie
) zur Beschreibung von Evolutionen vorgeschlagen, der den Replikatoren- oder Vererbungssystem-gestützten Ansätzen in vieler Hinsicht überlegen ist. Denn dabei stehen nicht länger Populationen aus nicht näher spezifizierten Individuen (wie in der Darwinschen Evolutionstheorie) oder gar Replikatoren (wie bei Dawkins) im Vordergrund der Analyse, sondern Populationen aus lauter autonomen Systemen mit eigenständigen Selbsterhaltungs- und Reproduktionsinteressen, in denen es dann auf ganz natürliche Weise zu einem Wettbewerb unter den Individuen und damit auch zu Evolution kommt.
Die Systemische Evolutionstheorie interessiert sich folglich in erster Linie für die autonomen Systeme, die sich selbsterhalten und reproduzieren wollen, denn nur die können Gegenstand der Evolution sein. Sie fragt nicht nach Replikatoren, sondern nach evolvierenden selbsterhaltenden Systemen. Dieser Auffassungsunterschied hat weitreichende Konsequenzen.
Beispielsweise kann es im Sinne der Systemischen Evolutionstheorie keine selbstständige Evolution von Augen, Ohren oder Nasen geben. Evolvierenkönnen immer nur autonome Systeme mit eigenständigen Selbsterhaltungsund Reproduktionsinteressen, also zum Beispiel die Lebewesen einer Population. Indirekt können sich im Laufe der Zeit auch deren Augen weiterentwickeln, aber dies wäre dann nur ein Aspekt eines größeren Evolutionsprozesses, nämlich der Evolution der betroffenen Spezies. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Evolution der Technik: Mobiltelefone können nicht selbstständig evolvieren, lediglich deren Hersteller. Die Evolution der Mobiltelefone wäre somit nur ein Aspekt der Evolution der MobilfunkBranche.
In dieser Weise könnte man nun fortschreiten: Bei der wissenschaftlichen Evolution evolvieren Wissenschaftler und Forschungsinstitute, bei der Kunst Künstler und beim Sport Sportler und deren Mannschaften. Ich werde auf diese Punkte im Abschnitt
Nichtbiologische Evolutionen
auf Seite → und den darauffolgenden Abschnitten noch im Detail eingehen.
Gemäß der Systemischen Evolutionstheorie können stets nur Lebewesen oder auf sie aufbauende biologische Phänomene (zum Beispiel Organisationssysteme) evolvieren, denn nur diese sind im Besitz der für evolutive Prozesse erforderlichen Systemeigenschaften.
Ohne eine solche theoretische Fundierung dürfte man aber schon bei der Bestimmung des Gegenstands der Evolution in Schwierigkeiten geraten. Merkmale, Kompetenzen, Gene, Meme, Kunstwerke, Gedichte, Opern, Wissenschaften, Sportarten, Autos, Banken,
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