Evolution, Zivilisation und Verschwendung
Funktionalität, wie die eines Rundfunkempfängers. Damit könnte er vielleicht einen nennenswerten Anteil der Kunden für sich gewinnen, obwohl sein Angebot preislich über dem der Konkurrenz liegt. Es ist nun aber zu erwarten, dass Hersteller A sehr bald ebenfalls Mobiltelefone mit integriertem Rundfunkempfänger anbieten wird, möglicherweise nun wieder etwas preisgünstiger als B. Auf diese Weise wird modernes Leben auf evolutive Weise erzeugt. Es werden Bedürfnisse geweckt, die es vorher noch überhaupt nicht gab. Und sehr bald wird es fürdie Konsumenten dann auch ganz selbstverständlich sein, dass Mobiltelefone immer integrierte Rundfunkempfänger besitzen. Ein Mobiltelefon ohne Rundfunkempfänger wäre dann irgendwie keins mehr, bestenfalls ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit.
Ganz ähnlich laufen evolutive Prozesse in der Natur ab.
Festzuhalten ist hier, dass für ein Unternehmen in erster Linie sein Überleben (ausgedrückt im Selbsterhaltungsinteresse), das heißt sein Selbsterhalt, von Bedeutung ist. Irgendwelche sachlichen Ziele sind demgegenüber sekundär (Simon 2007a: 29).
Allerdings stellt sich die Frage, wie dieser Selbsterhaltungsmechanismus innerhalb einer Organisation (eines Systems) implementiert ist. Fritz B. Simon führt dazu aus (Simon 2007a: 31 f.):
Nicht das gemeinsame Ziel der unterschiedlichen Interessengruppen ist es, was ihr Überleben sichert, sondern die Tatsache, dass die Organisation in der Lage ist, als gemeinsames Mittel für unterschiedliche Ziele zu dienen.
Anders gesagt: Die Organisation hat ein Selbsterhaltungsinteresse, dessen Erfüllung indirekt auch den Selbsterhaltungsinteressen seiner Akteure dient. Luhmann vermutet nun, dass es in diesem Zusammenhang zu einem Wettstreit zwischen alternativen Entscheidungen und in der Folge zu Selektionen im Möglichkeitsraum von Entscheidungen kommt (Simon 2007a: 106 f.):
Da die meisten der hier dem Möglichkeitsraum von Variationen zugewiesenen Entscheidungsprämissen selbst Gegenstand von Entscheidungen sind, ließe sich auch die These aufstellen, dass es „die Population von Entscheidungen“ (Luhmann 2000: 350) ist, aus der heraus sich eine Selektion vollzieht. „Wir nehmen an, dass die Variation die ereignishaften Operationen betrifft, die Selektion den Strukturbildungswert dieser Operationen und die Restabilisierung das System in seiner Umwelt. Zu Variationen kommt es, folgt man dieser Anregung, auf der Ebene der alltäglichen Entscheidungen. Sie haben sich mit je verschiedenen Situationen auseinanderzusetzen. Entscheidungsprämissen entsprechend zu modifizieren und personale Ressourcen des Verstehens der Situation und der kontextspezifischen Vorgaben zu aktivieren. Aber das bleiben zunächst Einmalereignisse. Jede Entscheidung eignet sich jedoch als mögliche Entscheidungsprämisse für andere Entscheidungen; sie mag zu einem Muster gerinnen, kann in die Erzählkunst des Systems eingehen, kann dem Wiedererkennen ähnlicher Fälle dienen und ihren Sinn damit einerseitskondensieren, andererseits generalisieren und abschleifen. Entscheidungen können erinnert bzw. vergessen werden; und wenn erinnert, so als nachahmenswert oder als Warnung, als gelungen oder als misslungen bewertet werden. Eine zunächst massenhaft auftretende Variation bleibt im Allgemeinen folgenlos. Das System entlastet sich durch vergessen. Aber sie kann gelegentlich auch ein Anlass zu positiven bzw. negativen Selektionen werden. Damit verändern sich die Strukturen des Systems, ohne dass dazu eine Entscheidung über die Einführung neuer Entscheidungsprämissen nötig wäre“ (Luhmann 2000: 352).
Organisationen verändern sich nach evolutionären Prinzipien. (…) Jede aufgrund eines Plans oder einer Leitungsentscheidung initiierte Veränderung erfolgt im Kontext evolutionärer Prozesse, das heißt, sie stellt eine Variation unter vielen dar. Ob sie nachhaltig Wirkungen erzielt, hängt davon ab, ob sie den Selektionsprozess überlebt und auf Dauer gestellt wird.
An dieser Darstellung lässt sich recht gut erkennen, welche Probleme sich die Luhmannsche Systemtheorie durch das Auslagern von menschlichen Kompetenzen und Intentionen aus den sozialen Systemen in deren Umwelten eingehandelt hat.
Evolvieren können letztlich immer nur Populationen aus selbsterhaltenden Systemen, die eigene Identitäten und eigenständige Selbsterhaltungs- und gegebenenfalls Reproduktionsinteressen besitzen. Entscheidungspopulationen gehören jedenfalls nicht dazu
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