Evolution
Kälte
angepasst. Und sie waren durch die Konkurrenz mit den Dinosauriern an
die Wachstumsgrenze gestoßen. Aber sie entwickelten isolierende
Schichten aus Fett und Fell, um die Körperwärme zu
speichern. Grabens Füße wurden so gekühlt, dass nur
ein geringer Temperaturunterschied zum Boden bestand und dadurch kaum
Wärme verloren ging. Blut, das von den Füßen in den
Körper hinaufgepumpt wurde, strömte durch
Blutgefäße mit warmem Blut, das in Gegenrichtung floss. So
wurde das abwärts fließende Blut gekühlt, ehe es die
Füße erreichte. Das Fett in Beinen und Füßen
war von besonderer Qualität: Es bestand aus kurzen
Kohlenwasserstoff-Ketten mit einem niedrigen Schmelzpunkt, weil es
sich sonst wie Butter im Kühlschrank verhärtet hätte.
Und so weiter.
Trotz aller Kälteanpassungen war Graben aber immer noch ein
Primat. Sie hatte noch die beweglichen Hände und starken
Unterarme ihrer Vorfahren. Und obwohl sie ein viel kleineres Gehirn
hatte als ihre Ahnen – in dieser kargen Landschaft war ein
großes Gehirn ein teurer Luxus, und die Tiere waren nicht
klüger als unbedingt notwendig –, war sie intelligenter als
jeder Lemming.
Aber das Klima wurde immer kälter. Und jedes Jahr wurden die
restlichen Tiere und Pflanzen in einem immer schmaleren
Tundra-Streifen an der Küste zusammengedrängt.
Das Endspiel stand bevor.
Graben rang nach Luft.
In plötzlicher Panik scharrte sie im Schnee über sich
und grub sich mit Händen, die eigentlich für das Erklimmen
von Bäumen geschaffen waren, durch ein Dach aus Schnee.
Schließlich schob sie sich aus der Höhle in grelles
Frühlingslicht. Ein Schwall miefiger Luft entwich hinter ihr und
waberte in der Kälte – muffig und mit dem Geruch des Todes
geschwängert.
Sie war ein zum Skelett abgemagertes Bündel mit Urin
befleckter Haut und Fell in einer weiten unberührten
Schneelandschaft. Die Sonne stand so hoch überm Horizont, um wie
eine gelbe Laterne an einem purpur-blauen Himmel zu hängen. Der
Frühling war also schon weit fortgeschritten. Aber nichts regte
sich: keine Vögel, keine Raptoren und es brachen auch keine
Allo-Babys aus den Winterhöhlen. Kein anderer
Höhlengräber erschien im Schnee; kein einziger Artgenosse
folgte ihr.
Sie arbeitete sich die Schneebank hinunter. Sie bewegte sich
steif, denn die Gelenke schmerzten. Und sie hatte einen
Heißhunger und eine völlig ausgedörrte Kehle. Durch
den langen Winterschlaf hatte sie ungefähr ein Viertel der
Körpermasse verloren. Und sie zitterte.
Das Zittern kündigte das Versagen der körpereigenen
Kälteschutz-Systeme an. Es war die letzte Option, durch
Muskelbewegungen Körperwärme zu erzeugen – und sie war
auch extrem energieaufwändig. Das Zittern hätte eigentlich
nicht sein dürfen.
Etwas stimmte nicht.
Sie erreichte den nackten Erdboden, der das Meer säumte. Der
Boden war noch steinhart gefroren. Und trotz der fortgeschrittenen
Jahreszeit wuchs hier noch nichts; Sporen und Samen schlummerten noch
immer unter der Erde.
Sie stieß auf eine Gruppe Leaellynasaurae. In der Kälte
hatten sie die Glieder und Hälse ineinander verschlungen, sodass
sie eine Art gefiederte Skulptur bildeten. Instinktiv presste sie
sich in den Schnee.
Aber von den Leaellynasaurae ging keine Gefahr aus. Sie waren tot,
in der finalen Umarmung erstarrt. Wenn Graben an ihnen gerührt
hätte, wäre das Ensemble umgekippt und die gefrorenen
Federn wären abgebrochen wie Eiszapfen.
Sie eilte weiter und überließ die Leaellynasaurae dem
Todesschlaf.
Sie erreichte eine kleine Landzunge, von der aus man das Meer
überblickte. An dieser Stelle hatte sie schon am Ende des
letzten Sommers gestanden und aus der Deckung eines kleinen
Farndickichts den Kampf zwischen einem Raptor und einem Frosch
beobachtet. Doch nun waren selbst die Sporen des Farns im kahlen
Boden eingeschlossen, und es gab nichts zu essen. Vor ihr erstreckte
sich das Meer als eine nahtlose weiße Fläche bis zum
Horizont. Sie verzagte angesichts der leblosen Geometrie: ein
messerscharfer Horizont vor ihr, eine weiße Fläche unter
ihr, eine leere blaue Kuppel über ihr.
Nur an der Küste wurde die Eintönigkeit aufgelockert.
Hier hatte die anbrandende See das Eis gebrochen, und hier tummelte
sich sogar jetzt noch Leben. Graben sah kleine Krustentiere durch die
Wasseroberfläche brechen und sich am Plankton laben. Und
Quallen, groß und klein, pulsierten in dieser Einöde
– durchscheinende, ätherische und zarte Geschöpfe, die
in der Dünung
Weitere Kostenlose Bücher