Evolution
durchwühlte
die Hautfetzen und von den Hyänen übrig gelassene
Fleischbrocken, aber die Ausbeute war gering. Die
›Putztruppen‹ der Savanne hatten das Fleisch des
Rüsseltiers effizient verwertet. Die Hyänen hatten sogar
die weichen Rippen geknackt. Doch dann fand er einen langen, dicken
Schenkelknochen, der in einem großen Klumpen auslief. Er war
unversehrt. Versuchsweise klopfte er mit einem anderen Knochen
dagegen – er klang hohl.
Im Schmutz fand er einen Stein, der gerade in die Faust passte. Er
hob den Stein und schlug damit auf den Knochen. Der Knochen
splitterte, und leckeres Mark quoll heraus. Das war eine Ressource,
die dem Zugriff der Hyänen-Zähne und Aasgeier-Schnäbel
entzogen war – aber nicht für Wedel. Er hob den Knochen und
schlürfte gierig das Mark.
Die anderen, die Capo und seine Horde aus dem Wald vertrieben
hatten, würden dort bleiben und sich mit dem begnügen, was
sie hatten. Aus solchen Horden sollten sich schließlich die
Schimpansen entwickeln, die sich kaum von dieser urzeitlichen Art
unterschieden. Sie würden nicht nur überleben, sondern
sogar einen Aufschwung nehmen: Obwohl die Wüste sich ausbreitete
und die Wälder zu einem Gürtel um den Äquator
schrumpften, würden die großen Flüsse den Schimpansen
Korridore eröffnen, durch die sie ins Herz von Afrika
wanderten.
Die Nachfahren von Capos Horde gingen jedoch einem ganz anderen
Schicksal entgegen. Dieses Häuflein Menschenaffen, das durch das
Verschwinden des Waldes heimatlos geworden war, würde einen Weg
finden, hier draußen zu überleben. Der Abschied von
einer Ökologie, an die sie sich über Jahrmillionen
angepasst hatten, fiel ihnen aber schwer: Solang die Menschenaffen
nicht über große Entfernungen zu gehen und zu rennen
vermochten, solange sie nicht zu schwitzen und solange sie nicht
einmal Fleisch zu verdauen vermochten, würden noch sehr viele
sterben. Aber ein paar würden überleben: nur ein paar, aber
das genügte schon.
Wedel hatte das Mark ausgesaugt. Aber es warteten noch viel mehr
Knochen darauf, geknackt zu werden. Er schaute zur Horde zurück
und rief sie herbei.
Dann drehte er sich wieder zur Savanne um. Er war ein Zweibeiner,
Werkzeugnutzer, Fleischfresser, Fremdenfeind, dabei hierarchisch,
kämpferisch und wettbewerbsorientiert – alles
Eigenschaften, die er im Wald erworben hatte. Und zugleich
verfügte er über die besten Qualitäten seiner
Vorfahren: Purgas Zähigkeit, Noths Elan, Streuners Mut, sogar
Capos Weitblick. Erfüllt mit den Möglichkeiten der Zukunft
und dem Erbe der Vergangenheit ließ das aufrecht stehende junge
Männchen den Blick über die Savanne schweifen.
ZWEI
MENSCHEN
ZWISCHENSPIEL
Alyce und Joan schlurften in der Menge der Passagiere auf das
Flughafengebäude zu. Sie waren nur für ein paar Minuten in
der dichten Rauchwolke gewesen, und doch musste Joan sich auf den Arm
von Alyce Sigurdardottir stützen. Sie hatte das Gefühl, zu
schmelzen.
Das Erste, was Joan nach dem Verlassen des Flugzeugs gespürt
hatte, war ein Erdbeben. Eine außergewöhnliche
Wahrnehmung, eine traumartige Verschiebung, die schon zu Ende war,
kaum dass sie begonnen hatte.
Das Beben war natürlich vom Rabaul verursacht worden.
Unter der Insel Papua Neu-Guinea war Magma in Wallung geraten
– geschmolzenes Gestein mit einem Volumen von tausend
Kubikkilometern. Diese große Aufwallung war mit einer
Geschwindigkeit von zehn Metern pro Monat durch Spalten in der
dünnen Erdkruste zur riesigen alten Caldera namens Rabaul
emporgestiegen. Das war eine erstaunliche Geschwindigkeit für
ein geologisches Ereignis und kündete von gewaltigen Energien.
Die aufsteigende Masse hatte das darüber liegende Gestein
aufgewölbt und das Land unter eine enorme Spannung gesetzt.
Rabaul hatte schon viele kataklysmische Ausbrüche zu
verzeichnen. Zwei dieser Eruptionen waren von menschlichen
Wissenschaftlern datiert worden: eine vor fünfzehnhundert Jahren
und die andere ungefähr zweitausend Jahre zuvor. Es war also nur
eine Frage der Zeit, bis es wieder geschehen würde.
Die anderen Passagiere, die durch die rauchige Luft zum kleinen
Flughafen-Terminal gingen, schienen das Beben gar nicht
mitzubekommen. Bex Scott war von ihrer Mutter Alison und ihrer
Schwester abgeholt worden – die goldene Augen und grünes Haar hatte. Unter einem Himmel, der von fernen Feuern erhellt
wurde, und über einem Land, das unbemerkt von ihnen sich
schüttelte, plauderten die
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