Evolution
Küsten
angewiesen.
Die wesentlichen Menschenaffen-Merkmale der Pithecinen – die
Greiffüße, die langen Arme und der gebückte Gang
waren bald verschwunden. Weits Füße waren zum Gehen und
Rennen gemacht und nicht zum Klettern: Der große Zeh war nun
ein richtiger Zeh und kein Daumen. Weits Brustkorb war jedoch etwas
hoch, und die Schultern ziemlich schmal; auch jetzt wies ihr
Körper noch Spuren der einstigen Anpassung an den Wald auf
– wie auch bei den modernen Menschen, wie bei Joan Useb.
Ihr Gehirn war zwischenzeitlich auf die über dreifache
Größe der Pithecinen-Gehirne angewachsen, um sich besser
in unübersichtlichen Landschaften zu orientieren und in den
immer komplexeren sozialen Strukturen großer Gruppen von
Savannen-Jägern zurechtzufinden. Dieses große Gehirn
benötigte sehr viel Energie, doch Weits Nahrung war viel
hochwertiger als das Pithecinen-Futter und bestand aus reichlich
proteinhaltigem Fleisch und Nüssen – deren Suche wiederum
eine höhere Intelligenz erforderte. Also war sie in gewisser
Weise zum Erfolg verdammt.
Indes beruhten diese durchaus drastischen Veränderungen auf
einer evolutionären Strategie, die sich durch eine
bemerkenswerte Ökonomie auszeichnete. Sie fußte
nämlich auf Heterochronie – Ungleichzeitigkeit. Läufer-Babys sahen im Prinzip genauso aus wie die Jungen
ihrer affenartigen Vorfahren und die späteren Menschenkinder:
Sie hatten vergleichsweise große Köpfe mit einem kleinen
Gesicht und einem kleinen Mund. Wollte man nun ein Capo werden,
bildete man einen starken Kiefer aus und hielt den Kopf relativ
klein. Ganz anders bei Weit: Ihr Kopf war größer geworden,
während der Kiefer klein geblieben war. Auch der viel
größere Körper war durch Wachstumsschübe
zustande gekommen: Ihr Körper hatte in etwa die relativen
Dimensionen eines fötalen Capo, der auf
Erwachsenengröße aufgepumpt worden war.
Die beachtliche Körpergröße und das große
Gehirn hatten jedoch ihren Preis. Sie war unvollständig
entwickelt auf die Welt gekommen, weil es sonst unmöglich
gewesen wäre, den Kopf durch den Geburtskanal der Mutter zu
pressen. Sie war ›unreif‹ geboren worden. Anders als die
Menschenaffen und auch die Pithecinen vermochten die
Läufer-Kinder erst lang nach dem Abstillen auf Nahrungssuche zu
gehen: Außer der körperlichen Unreife verfügten die
Neugeborenen auch nicht über die angeborene Fähigkeit,
Nahrungsquellen wie erlegte Tiere, Muscheln und Nüsse zu nutzen
– das mussten sie erst erlernen. Zugleich wurden die Kinder der
Läufer in die Räuber-Hölle der Savanne hineingeboren.
Deshalb brauchten die Kinder viel Aufmerksamkeit.
Diese kostspieligen, unselbständigen Kinder waren für
die Läufer ein Wettbewerbsnachteil gegenüber den schnell
sich vermehrenden Pithecinen, mit denen sie sich oft den Lebensraum
teilten. Und das war auch der Grund, weshalb die Läufer die
Tendenz entwickelten, länger zu leben.
Die meisten Pithecinen-Weibchen – wie die Primaten vor ihnen
– starben bald, nachdem sie ihre fruchtbare Periode hinter sich
hatten. Zumal auch nur wenige überhaupt die letzte Geburt
überstanden. Die Läufer-Frauen und Männer lebten aber
noch Jahre, gar Jahrzehnte nach dem Ende der
Fortpflanzungsfähigkeit. Diesen Großmüttern und
Großvätern kam nun eine wichtige Funktion in der
Prägung der Läufer-Gesellschaft zu. Sie ermöglichten
nämlich Arbeitsteilung: Sie unterstützten ihre Töchter
bei der Kinderaufzucht, sie halfen bei der Nahrungssuche und sie
gaben die komplexen Informationen weiter, auf die die Läufer zum
Überleben angewiesen waren.
All das hatte eine effizientere Neukonstruktion des Körpers
erfordert. Läufer-Körper waren viel langlebiger als die der
Pithecinen und verfügten zudem über bessere
Selbstheilungskräfte – nur nicht was die
Fortpflanzungs-Organe betraf. Die Eierstöcke einer
vierzigjährigen Läufer-Frau waren so stark degeneriert, wie
der restliche Körper es im Alter von achtzig Jahren gewesen
wäre, falls sie überhaupt so lang gelebt hätte.
Die Unterstützung der Großmütter bedeutete vor
allem, dass ihre Töchter es sich zu leisten vermochten,
öfter Kinder zu bekommen. Und in dieser Disziplin schlugen die
Läufer die Pithecinen und die Menschenaffen. Fast alle
Läufer-Kinder überlebten die Entwöhnung – die
wenigsten Pithecinen-Jungen überlebten sie.
Für die Pithecinen war die Entstehung dieser neuen Art ein
Desaster. Wegen ihrer engen Verwandtschaft bewohnten Läufer und
Pithecinen
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