Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
den gleichen Lebensraum, und es kam auch kaum zu direkten
Konflikten zwischen ihnen. Manchmal jagten Pithecinen Läufer,
oder Läufer jagten Pithecinen, doch betrachteten sie sich
gegenseitig als eine zu schlaue und gefährliche Beute, als dass
es den Aufwand gelohnt hätte. Dennoch sollten die flexiblen,
mobilen Läufer mit den großen Gehirnen ihre weniger
intelligenten Verwandten allmählich verdrängen.
    Letztlich waren weder die Werkzeugfertigung noch das Bewusstsein
an sich ein Garant fürs Überleben.
    Natürlich hätte das alles nicht passieren müssen.
Ohne die Klimaschwankungen, die zufällige Isolierung von Weits
Vorfahren wäre die Menschheit vielleicht nie entstanden: Es
hätte nur die Pithecinen gegeben, aufrechte Schimpansen ohne
richtige Sprache, die noch für ein paar Millionen Jahre
primitive Werkzeuge fertigten und nichtige Händel austrugen, bis
die Wälder schließlich ganz verschwanden und sie dem
Untergang geweiht waren.
    Das Leben war immer schon ein Glücksspiel gewesen.
     
    Weit verbrachte die Nacht allein. Sie fror und schlief
schlecht.
    Als sie am nächsten Tag versuchte, sich in die Gruppe zu
integrieren, schaute eine hochschwangere Frau sie finster an. Das war
eine uralte Primaten-Herausforderung: War Weit hier, um sich Nahrung
anzueignen, die sonst ihrem ungeborenen Kind zugute gekommen
wäre?
    Weit fühlte sich total isoliert. Sie hatte zu niemandem hier
irgendwelche Bindungen. Es gab keinen Grund, weshalb diese Leute ihr
Territorium und ihre Ressourcen mit ihr teilen sollten. Zumal dieser
Ort auch nicht gerade ein Paradies zu sein schien. Obendrein schien
sie nun auch noch bei Axt auf Ablehnung zu stoßen.
    Im Lauf des Nachmittags ging sie als Erste allein zur Höhle
im Sandsteinfelsen zurück. Sie ließ sich in der Ecke
nieder, die sie inzwischen als ihren Platz betrachtete.
    Und dann bemerkte sie ein paar rote Steinbrocken, die an der
Rückwand der Höhle verstreut waren. Sie hob sie auf und
betrachtete sie neugierig. Die Brocken waren weich und leuchteten
hellrot im Tageslicht. Es handelte sich um Ocker-Klumpen mit der
rötlichen Färbung von Eisenoxid. Irgendjemandem waren die
Brocken ins Auge gestochen, und er hatte sie mit hierher
genommen.
    Sie sah rote Spuren auf verstreuten Basaltbrocken an der
Rückwand der Höhle: Das Rot hatte die gleiche Farbe wie das
Ocker – und wie Blut. Versuchsweise verschmierte sie das Ocker
auf dem Gestein und sah zu ihrem Erstaunen, dass es nun noch mehr
blutige Streifen aufwies.
    Für eine Weile spielte sie mit den Ocker-Klumpen, ohne dass
sie wusste, was sie tat. Ihre Finger entwickelten ein Eigenleben und
fügten den wirren Mustern auf dem Gestein weitere hinzu.
    Dann hörte sie die Rufe der Leute, die zum vorläufigen
Stützpunkt zurückkehrten. Sie legte die Ocker-Klumpen
dorthin zurück, wo sie sie gefunden hatte und verzog sich in
ihre Ecke.
    Aber die Handflächen waren hellrot: rot wie Blut. Im ersten
Moment glaubte sie, sie hätte sich geschnitten. Als sie sich
jedoch die Hände ablecke, schmeckte sie salzigen Sand, und die
Schmiere ging ab.
    Rot wie Blut. Zögerlich wurde eine Verknüpfung in
ihrem Bewusstsein hergestellt, und Licht drang durch eine Ritze
zwischen den Gedanken-Schubladen.
    Sie ging zu den Ocker-Klumpen zurück und fuhr sich dann damit
über den Handrücken, sodass ein Gewirr aus Linien entstand
– und dann über die verheilende Pithecinen-Wunde an der
Schulter, sodass sie wieder schön rot glänzte.
    Und sie färbte sich auch zwischen den Beinen, färbte die
Haut rot wie Blut. Sie schien zu bluten, wie sie ihre Mutter hatte
bluten sehen.
    Sie ging in ihre Ecke zurück und wartete, bis das Licht
erlosch. Als die Leute ihre Fellpflege betrieben, rollte sie sich
zusammen und versuchte zu schlafen.
    Jemand näherte sich ihr. Er war warm und atmete leise. Es war
Axt. Sie roch den Staubgeruch der Steinsplitter an seinem Bauch und
den Beinen. Seine Augen waren dunkle Kreise im erlöschenden
Licht. Der Moment zog sich in die Länge. Dann berührte er
sie an der Schulter. Sie zitterte unter der schweren warmen Hand. Er
beugte sich über sie und schnüffelte leise. Er nahm ihre
Witterung auf, wie Braue es getan hatte, bevor sie von ihrer Familie
getrennt worden war.
    Sie spreizte die Beine, damit er das ›Blut‹ im letzten
Licht zu sehen vermochte. Sie saß angespannt da und erwartete
ihn.
    Sie wusste, ihr Leben hing davon ab, dass er sie nahm. Vielleicht
war es diese kreatürliche Angst und Sehnsucht, die Sehnsucht,
dass er

Weitere Kostenlose Bücher