Evolution
freuen, wenn er ein paar dicke
Knollen mit nach Hause brachte, die sie gleich aufs Feuer werfen
konnte. Zumal Maniok nicht nur als Nahrungsmittel nützlich war.
Man vermochte sie als Giftköder für Vögel und Fische
zu benutzen und sich ihren Saft in die Haare einzumassieren, um die
Läuse zu vernichten, die sich dort einnisteten…
Plötzlich hörte er ein knirschendes Geräusch.
Erschrocken riss Kieselstein den Grabstock heraus. Er beugte sich
nach vorn, beschirmte die Augen vorm grellen Sonnenlicht und
versuchte zu erkennen, was dort unten im Loch war. Vielleicht war es
ein Insekt, das sich eingegraben hatte. Aber er sah nichts
außer einem rostroten Ding, das ein bisschen wie Sandstein
aussah. Er griff ins Loch, bekam den Gegenstand mit den kurzen
Fingern zu fassen und brachte ihn ans Tageslicht. Es war eine kleine
Kuppel mit einem gezackten Rand, deren Grundfläche seiner
Handfläche entsprach. Als er sie vor die Augen hob, schauten ihn
zwei leere Augenhöhlen an.
Es war ein Schädel. Der Kopf eines Kinds.
Das war kein gruseliger Fund. Kinder starben laufend. Dies war ein
harter Ort, an dem Mitleid für die Schwachen und Kranken fehl am
Platz war.
Doch alle Kinder, die in Kieselsteins noch jungem Leben gestorben
waren, waren wie sämtliche Toten in der Nähe der
Hütten vergraben worden, um Aasfresser daran zu hindern, die
Lebenden zu belästigen. Vielleicht hatten seine Leute es hier,
wo nun der Maniokstrauch wuchs, begraben, ehe Kieselstein geboren
wurde.
Aber der Schädel war seltsam filigran und leicht. Kieselstein
wog ihn in der Hand. Er hatte einen starken Brauenwulst, von dem die
Stirn fast waagrecht abfiel. Kieselstein fuhr sich selbst über
den Kopf und verglich die Linienführung des Schädels mit
der leichten Wölbung seiner Stirn. Dann erkannte er Bissmale in
der kleinen Schädeldecke: präzise Löcher, die von den
Zähnen einer Katze stammten – aber erst, als das Kind schon
tot und auf der Ebene zurückgelassen worden war.
Kieselstein konnte natürlich nicht wissen, dass er die
sterblichen Überreste von Bengel, Weits Bruder, in der Hand
hielt, der nicht weit von hier gelebt hatte und gestorben war. Bengel
war noch als Kind an Vitaminose gestorben, ohne viel von der Welt
gesehen zu haben. Es wäre auch kaum ein Trost für Bengel
gewesen, wenn er gewusst hätte, dass – eine Million Jahre
nach dem Ende seines kurzen Lebens – sein kleiner Kopf in der
Hand eines entfernten Großneffen gewiegt werden würde.
Und Bengel hätte die Landschaft, den Ort, an dem er einst
gespielt hatte, auch kaum wieder erkannt.
Die geologische Struktur des Rift Valley – das Plateau, das
Gestein, die Vulkanberge, das weite Tal selbst – hatte sich im
Lauf der Zeit kaum verändert. Seit Weits Tagen war es jedoch ein
karger, trockener Ort geworden. Vereinzelte Haine aus Akazien und
wildem Lorbeer hatten das Dickicht und die Wäldchen der
Vergangenheit ersetzt. Sogar das Grasland hatte sich verändert
und wurde von ein paar feuerresistenten Pflanzenarten beherrscht.
Zugleich waren die Tierpopulationen der Vergangenheit implodiert. Es
war kein einziger Elefant in dieser Steppe mehr zu sehen, keine
Antilope oder Giraffe. Es war, als ob das Leben hier eingebrochen
wäre. Der Ort war tot. Weit wäre bei diesem Anblick
erschrocken.
Dennoch hatten die sterblichen Überreste Bengels der Welt
ihren Stempel aufgedrückt: Die im vergrabenen Schädel
enthaltene Feuchtigkeit hatte genügt, um dem Maniokstrauch das
Wachstum zu ermöglichen.
Achtlos schloss Kieselstein die Faust um den kleinen Schädel.
Er zerbröselte, und die Splitter rieselten ins Loch zurück.
Dann griff Kieselstein nach dem Grabwerkzeug; er musste die Wurzel
noch ausgraben.
In diesem Moment sah er die Fremden.
Er duckte sich hinter einen Felsen und hielt den Atem an.
Es waren Jäger – das sah er sofort. Sie folgten einem
alten Elefantenpfad. Elefanten gingen zum Wasser, und wo es Wasser
gab, gab es auch viele Tiere, einschließlich der
mittelgroßen Ungeheuer wie Damwild, das viele Leute
vorzugsweise jagten.
Sie waren zu viert, alles Erwachsene: drei Männer und eine
Frau. Die Jäger schritten weit aus und hatten den Körper
dabei leicht vorgebeugt. Es war eine ausdauernde, keine elegante oder
schnelle Gangart. Die Jäger hatten nichts von Weits
Geschmeidigkeit. Dichte Bärte verbargen die Gesichter der
Männer, und die Frau hatte das lange Haar mit einer Lederschnur
zusammengebunden. Im Gegensatz zu Kieselstein waren diese Leute
bekleidet: Sie
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