Evolution
und
Syntax. Auch eine Million Jahre nach Weit war Sprache
hauptsächlich eine soziale Fähigkeit, die nur für
Klatsch und Tratsch verwendet wurde. Um Details und komplexe
Informationen zu vermitteln, musste man sich mit Wiederholungen und
endlosen Umschreibungen behelfen und dies mit Mimik, Gestik und
›Theater‹ unterlegen. Es fiel den Erwachsenen schwer, den
Sinn von Kieselsteins Botschaft zu begreifen. Sie selbst sahen keine
Fremden. Er log vielleicht oder übertrieb: Er war
schließlich noch ein Kind. Der einzige Gradmesser für den
Wahrheitsgehalt seiner Aussagen waren die Leidenschaft und Energie,
die er in seine Vorführung legte.
So lief das immer. Damit überhaupt jemand zuhörte,
musste man schreien.
Schließlich gab Kieselstein es auf und setzte sich keuchend
in den Schmutz. Er hatte sein Bestes gegeben.
Plattnase kniete neben ihm nieder. Plattnase glaubte seinem Sohn:
Die Vorführung hatte ihn zu sehr angestrengt, als dass er
gelogen hätte. Er legte seinem Sohn die Hand auf den Kopf.
Beruhigt berührte Kieselstein den Arm seines Vaters. Er
spürte eine Reihe langer und gerader Narben, die parallel zum
Unterarm verliefen. Diese Kratzer stammten aber nicht von Tieren.
Plattnase hatte sie sich mit der scharfen Klinge eines Steinmessers
selbst zugefügt. Kieselstein wusste, wenn er älter war,
würde er sich dem gleichen Spiel, der gleichen
Selbstverstümmelung unterziehen, die man stumm und mit einem
Grinsen erduldete: Sie war ein Teil dessen, was seinen Vater
ausmachte, war Teil seiner Stärke, und Kieselstein empfand es
als tröstlich, diese Narben zu streicheln.
Einer nach dem andern gesellten die Erwachsenen sich zu ihnen.
Als der Moment des stillschweigenden Einverständnisses
verstrichen war, stand Plattnase auf. Es bedurfte keiner Worte mehr.
Jeder wusste, was zu tun war. Die Erwachsenen und die älteren
Kinder durchstreiften die Siedlung auf der Suche nach Waffen. Es
herrschte keine Ordnung in der Siedlung, und die Waffen und anderen
Werkzeuge lagen dort herum, wo man sie zuletzt benutzt hatte –
inmitten von Haufen aus Nahrungsmitteln, Schutt und Asche.
Trotz der Dringlichkeit bewegten die Leute sich jedoch eher
gemächlich, als ob sie die Wahrheit immer noch nicht so recht
glauben wollten.
Staub, Kieselsteins Mutter, versuchte ihr quengelndes Baby zu
beruhigen, während sie die Ausrüstung zusammensuchte. Das
offene, vorzeitig ergraute Haar war in einer exzentrischen Anwandlung
immer mit einem trockenen duftenden Staub gepudert. Mit
fünfundzwanzig alterte sie schnell und hinkte wegen einer alten
Wunde, die nie richtig verheilt war. Seither hatte Staub doppelt so
hart gearbeitet, und diese Belastung spiegelte sich in ihrer
gebückten Haltung und dem verhärmten Gesicht wider. Aber
sie hatte einen klaren Verstand und eine außerordentliche
Vorstellungskraft. Sie dachte schon an die schweren Zeiten, die
bevorstanden. Beim Blick in ihr Gesicht fühlte Kieselstein sich
schuldig, weil er sie mit dieser Sache behelligt hatte…
Kieselstein hörte ein leises Zischen, sah einen Blitz. Er
drehte sich um.
In einem traumgleichen Moment sah er den Speer im Flug. Er war aus
einem schönen Stück Hartholz gearbeitet. Vor der Spitze war
er am dicksten und verjüngte sich zum Ende hin, was ihm gute
Flugeigenschaften verlieh.
Und dann war es, als ob die Zeit wieder in Fluss geriet.
Der Speer bohrte sich Plattnase in den Rücken. Er wurde auf
den Boden geschleudert. Der Speer ragte ihm senkrecht aus dem
Rücken. Er zuckte noch einmal und entlud explosiv den Darm. Eine
schwarzrote Pfütze breitete sich unter ihm aus und tränkte
den Boden.
Im ersten Moment war Kieselstein mit diesen Eindrücken
überfordert – mit der Vorstellung, dass Plattnase so
plötzlich gestorben war. Es war, als ob ein Berg plötzlich
verschwunden oder ein See verdampft wäre. Doch Kieselstein hatte
den Tod trotz seines jungen Lebens schon in allen Facetten kennen
gelernt. Und er roch auch den Gestank nach Kot und Blut: Fleisch
riecht, aber keine Person.
Ein Fremder stand zwischen den Hütten. Er war kompakt und
kräftig. Er war in Häute gewickelt und hielt einen
Stoßspeer in der Hand. Sein Gesicht war ockerfarbenen
schraffiert. Er war derjenige, der Plattnase mit dem Speer
niedergestreckt hatte. Und Kieselstein sah auch den
zurückgelassenen Grabstock in der Hand des Fremden. Sie hatten
ihn beim Maniokstrauch gesehen. Sie waren seiner Spur gefolgt. Kieselstein hatte sie hierher geführt.
Voller Wut, Furcht und
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