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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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hatten sich einfach Tierhäute umgehängt und
mit Lederstreifen oder Gürteln geflochtener Rinde
verschnürt. Kieselstein sah Bissspuren in der Bekleidung. Leder
wurde mit den Zähnen gegerbt, und Kieselsteins dicker
Brauenwulst hatte unter anderem die Funktion einer Verankerung
für die Kiefer, die eine so harte Arbeit verrichten mussten.
    Und sie waren bewaffnet: mit hölzernen Wurfspeeren und
kürzeren, kompakten Stoßspeeren. An Hartholzknüppeln
waren Steinspitzen mit Harz und Lederschnüren befestigt. Das
waren Waffen für Riesen, die ein Mensch kaum hochzuheben,
geschweige denn zu werfen vermocht hätte.
    Sie waren robuste Leute wie Kieselsteins Art. Er sah jedoch die
ockerfarbenen Muster, mit denen sie Gesichter, Hände und Arme
versehen hatten. Während Kieselsteins Körperbemalung aus
vertikalen Linien bestand – Balken, Streifen und Bänder
–, waren diese Leute mit einer Art Schraffur aus dicken Linien
verziert.
    Sie waren Fremde. Das sah man an der Körperbemalung. Und
Fremde bedeuteten Ärger. Dies war ein Gesetz, das die gleiche
Gültigkeit besaß wie der Aufgang der Sonne und des
Monds.
    Kieselstein wartete, bis die Neuankömmlinge hinter einem
Akazienhain verschwunden waren. Dann rannte er so leise, wie der
kompakte Körper es ihm erlaubte, nach Hause zurück. Die
Maniokknollen, die er ausgegraben hatte, ließ er zusammen mit
dem Grabstock zurück.
     
    Kieselsteins Zuhause war eine Art Dorf aus vier großen
Hütten, die in einem annähernden Rechteck um eine Lichtung
angeordnet waren. Und doch war es kein Dorf, weil die Bewohner eine
etwas andere Lebensweise als die Menschen hatten.
    Kieselstein blieb keuchend auf der Lichtung stehen. Es war niemand
draußen. Neben einer Hüttentür schwelte ein Feuer.
Der zertrampelte Boden war mit Knochen, Pflanzenresten, Werkzeugen,
Matratzen aus Laub und Gras, Rindenstücken, Holzsplittern,
Keilen, zerbrochenen Speeren und Lederfetzen übersät. Es
war eine regelrechte Müllkippe.
    Die Hütten waren primitiv und hässlich, erfüllten
aber ihren Zweck. Sie bestanden aus kräftigen jungen
Stämmen, die annähernd kreisförmig in den Boden
gerammt worden waren. Die Lücken zwischen den Stämmen hatte
man dann mit gespaltenem Schilfrohr, überlappenden
Blättern, Binsen und Rinde ausgefüllt. Zuletzt waren die
Stämme an den Spitzen zusammengezogen und überlappend
festgebunden worden. Das war eine Technik, die Capo bekannt
vorgekommen wäre, denn vor fünf Millionen Jahren hatte er
seine Baumwipfel-Nester schon auf die gleiche Art gebaut: Jede
erzwungene Neuerung baute auf alten Techniken auf.
    Die Hütten waren alt. Die Leute hatten schon seit
Generationen hier gelebt. Im Boden unter Kieselsteins
Füßen stapelten sich die Knochen seiner Vorfahren. Die
Leute fühlten sich hier sicher. Das war ihr Ort, ihr Land.
    Doch Kieselstein wusste, dass das alles sich vielleicht bald
ändern würde.
    Er hob den Kopf zum ausgewaschenen Himmel. »U-lu-lu-lu-lu!
U-lu-lu-lu-lu…!« Das war ein Ruf der Gefahr und des
Schmerzes, der erste Ruf, den ein Kind nach dem
›Fütter-mich‹-Schrei lernte.
    Die Leute kamen aus den Hütten gerannt und aus der Umgebung,
wo sie als Sammler und Jäger unterwegs gewesen waren. Sie
scharten sich besorgt um Kieselstein. Es waren ihrer zwölf: drei
Männer, vier Frauen, drei ältere Kinder –
einschließlich Kieselstein selbst – und zwei Babys, die
von ihren Müttern ängstlich festgehalten wurden.
    Er versuchte ihnen zu sagen, was er gesehen hatte. Er deutete in
die Richtung, wo er die Fremden gesehen hatte und rannte ein paar
Schritte auf und ab. »Andere! Andere, andere, Jäger!«
Er vollführte ein realistisches Schauspiel, wobei er
gestikulierte, posierte und mit geschwellter Brust den Gang starker
Jäger imitierte. Er stellte sogar mit der Mimik dar, wie sie den
Leuten mit ihren mächtigen Fäusten den Schädel
zertrümmerten.
    Seine Zuhörer wurden ungeduldig. Sie wandten sich ab und
schienen sich wieder ihren Verrichtungen wie Sammeln, Essen oder
Schlafen widmen zu wollen. Ein Mann beobachtete Kieselsteins
Darbietung jedoch aufmerksamer. Er war ein bulliger Typ, der noch
kräftiger gebaut war als die meisten anderen. Seine Nase war in
der Kindheit durch einen Unfall verunstaltet worden, wobei der
Knorpel der großen fleischigen Nase zertrümmert worden
war. Dieser Mann, Plattnase, war Kieselsteins Vater.
    Kieselsteins Sprache war jedoch begrenzt. Sie bestand lediglich
aus einer Aneinanderreihung konkreter Wörter ohne Grammatik

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