Evolution
flussaufwärts benutzte ein Basalt-Messer, um ein
Kaninchen zu häuten. Die beiden starrten sich an – der eine
mit Fleisch, die andere mit Wurzeln. Sie hätten fliehen oder
versuchen können, sich gegenseitig umzubringen. Aber sie taten
es nicht.
Stattdessen tauschten sie: Fleisch für Wurzeln. Und dann
gingen sie wieder ihrer Wege.
Nach ein paar Tagen kehrte die Frau zu derselben Stelle
zurück. Wieder erschien auch der Mann. Mit finsteren Blicken,
argwöhnisch und unfähig zur Verständigung trieben sie
wieder Handel, diesmal Muscheln und Krebse von der Flussmündung
für zwei Basaltmesser.
So begann es. Weil die Sumpf-Leute in dem Land, wo sie gesiedelt
hatten, nicht alles Überlebensnotwendige fanden, tauschten sie
die Erzeugnisse des Meers, des Sumpfs und der Flutebene gegen
Fleisch, Häute, Stein und Früchte aus dem Landesinnern.
Nach zwei Generationen gingen sie auf Wanderschaft und fingen ein
neues Leben an. Sie wurden zu richtigen Nomaden und folgten den
großen natürlichen Verkehrswegen, den Küsten und den
Wasserläufen im Binnenland. Und überall, wohin sie kamen,
trieben sie Handel. Unterwegs spalteten sich Gruppen ab und breiteten
sich aus, und allmählich entstanden Handels-Netzwerke. Bald fand
man bearbeiteten Stein hunderte Kilometer von dem Ort entfernt, an
dem der Steinmetz gesessen hatte, und Muschelschalen tauchten in der
Mitte des Kontinents auf.
Dennoch war diese Lebensweise eine Herausforderung. Um Handel zu
treiben, musste man ein neues Verständnis der Welt entwickeln.
Andere Leute waren nicht mehr nur passive Merkmale der Landschaft wie
Felsen und Bäume. Nun musste man sich merken, wer wo lebte, wer
was anzubieten hatte und wer freundlich – und ehrlich war. Damit
standen die Sumpf-Leute unter dem ungeheuren Druck, sehr schnell viel
intelligenter zu werden.
Die Form ihrer Köpfe änderte sich grundlegend. Der
Schädel vergrößerte sich, um einem
größeren Gehirn Platz zu bieten. Und die neuen
Essgewohnheiten und Lebensweisen wirkten sich nachhaltig aufs Gesicht
aus. Weil die Zähne nicht mehr dazu dienten, zähe,
ungekochte Nahrung zu kauen oder Leder zu gerben, wurden sie
schwächer verwurzelt. Weil die Kaumuskulatur sich
zurückbildete, wich auch die obere Zahnreihe zurück. Der
Unterkiefer sprang weiterhin vor, aber das Gesicht fiel nun senkrecht
ab, sodass diese Hominiden auch den letzten Rest der affenartigen
Anmutung verloren. Durch den schrumpfenden Kiefer und die nach vorn
sich wölbende Stirn wurden neue Aufhängungspunkte für
die Gesichtsmuskeln geschaffen, und die alten vorspringenden
Brauenwülste verschwanden.
In dem Maß, wie sie an Intelligenz gewannen, vermochten sie
auch auf Körperkraft zu verzichten. Ihr Körper verlor die
Robustheit der unmittelbaren Vorfahren und nahm wieder so etwas wie
die grazile Schlankheit von Weits Leuten an.
Kieselsteins erster Eindruck, dass Harpune kindlich anmutete, war
durchaus begründet. Mit den Gesichtszügen und den
dünnen Gliedmaßen wirkten diese neuen Leute im Vergleich
zu den alten Stämmen wie Kinder, die im Wachstum gehemmt worden
waren. Erneut hatten die Gene unter starkem Selektionsdruck Varianten
ausgeprägt, die schnell umgesetzt werden konnten: Die
Wachstumsgeschwindigkeit der verschiedenen Skelett-Partien zu
ändern war eine relativ leichte Übung.
Diese Änderungen waren innerhalb weniger Jahrtausende
abgeschlossen. Nach diesem Prozess war Harpune anatomisch mit den
Menschen aus Joan Usebs Zeit praktisch identisch, auch was den
Schädel und die Strukturierung des Gehirns betraf. Und es war
der Handel gewesen, eine neue Art des Umgangs mit anderen Leuten, dem
sie diese Fortschritte zu verdanken hatte.
Dennoch war Harpune noch kein Mensch.
Ihr Leben war durch kleinere Erfindungen und eine etwas
verbesserte Organisationsstruktur charakterisiert. Ihre Art baute zum
Beispiel Herde. Ihr Werkzeugsatz war jedoch kaum fortschrittlicher
als der von Kieselstein und seinen Vorfahren. Ihre Sprache war das
gleiche unstrukturierte Geplapper. Die Art und Weise, wie sie ihr
Leben lebte, zum Beispiel die Sexualität, hatte sie weitgehend
unverändert von den Altvorderen übernommen. Es gab noch
immer starre Barrieren in ihrem Bewusstsein und zu wenig Verbindungen
in der neuronalen Vernetzung des Gehirns. Ein Mensch aus Joan Usebs
Zeit wäre wegen der Monotonie, der immergleichen Routinen und
Rituale, des Fehlens von Kunst und Sprache – also bei dem total
öden und geistig armen Leben – schnell verrückt
geworden.
Und
Weitere Kostenlose Bücher