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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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das sie in den Händen zu halten oder sich um die Schultern
zu hängen vermochten. Er befingerte das grobe Geflecht. Seiner
Einschätzung nach bestand es aus Schlingpflanzen oder Lianen.
Aber die Fasern waren zu einer festen Schnur verdrillt worden, die
dünner war als jede Liane.
    Verwirrt ließ er den Beutel fallen.
    Diese Hütte war wie seine Hütte und auch wieder nicht.
Zum einen war es seltsam, alles zu trennen. Zu Hause aß man, wo
man wollte und fertigte Werkzeug, wo man wollte. Der Raum war nicht
aufgeteilt. Hier aber schien es einen Platz zum Essen zu geben, einen
zum Schlafen, einen zum Feuermachen und einen für die
Werkzeugfertigung. Das war doch blöd. Und…
    »Ko ko ko!«
    Ein Mann war im Eingang erschienen. Die gegen das Tageslicht sich
abzeichnende Silhouette war so groß und schlank wie Harpune und
hatte den gleichen kuppeiförmigen Kopf. Der Mann hatte einen
ängstlichen Gesichtsausdruck, aber er hob dennoch einen
Speer.
    Adrenalin wurde in Kieselsteins Kreislauf gepumpt. Er stand
schnell auf und taxierte den Widersacher.
    Der mit verschnürten Tierhäuten bekleidete Mann war
spindeldürr und hatte sehnige Muskeln. Dem Muskelpaket
Kieselstein hätte er nichts entgegenzusetzen. Und seine Waffe
war nur ein leichter Wurfspeer aus geschnitztem und gehärtetem
Holz; es war kein Stoßspeer, wie man ihn für den Nahkampf
gebraucht hätte. Kieselstein würde diesem Gerippe einfach
den Hals brechen.
    Aber der Mann wirkte trotz der Furcht entschlossen. »Ko,
ko, ko!«, rief er wieder. Und er machte einen Schritt nach
vorn. Kieselstein knurrte und bereitete sich auf den Kampf vor.
    »Ya, ya.« Das war Harpune. Sie fiel dem Mann in
den Arm. Er versuchte sie abzuschütteln, und sie begannen eine
Diskussion. Es war eine Unterhaltung, wie sie genauso gut auch in
Kieselsteins Hütte hätte stattfinden können: eine
Aneinanderreihung von Worten, von denen er kein einziges verstand,
ohne Gliederung und Satzbau. Zur Verdeutlichung mussten sie sich mit
Wiederholungen, erhobener Stimme und Gestik behelfen. Das dauerte
lange, wie es für solche Auseinandersetzungen üblich war.
Doch schließlich lenkte der Mann ein. Er schaute Kieselstein
finster an, spuckte auf den Boden der Hütte und ging hinaus.
    Vorsichtig betrat Harpune die Hütte. Ohne Kieselstein aus den
Augen zu lassen, setzte sie sich auf den festgestampften Boden. Ihre
Augen leuchteten im dämmerigen Licht.
    Zögerlich setzte Kieselstein sich ihr gegenüber.
    Schließlich schob Harpune die schmale Hand unter eine Decke,
holte eine Handvoll Affenbrotbaum-Früchte hervor und hielt sie
Kieselstein hin. Zögernd nahm er sie. Für eine Weile
saßen sie sich stumm gegenüber, die Vertreter zweier
menschlicher Unterarten, die weder ein Wort noch eine Geste gemeinsam
hatten.
    Wenigstens versuchten sie nicht, sich gegenseitig zu
töten.
     
    Nach jenem Tag fühlte Kieselstein sich in seinem Zuhause, bei
seinen Leuten immer unbehaglicher.
    Die sehnigen Leute schienen ihn zu akzeptieren. Der große
Mann, der ihn in der Hütte gefunden hatte –
›Ko-ko‹, denn Kieselstein würden seine »Ko,
ko!«-Rufe für immer im Ohr hallen –, traute ihm
nicht. Aber Harpune schien sich für ihn zu erwärmen. Sie
bearbeiteten zusammen Werkzeug, wobei sie mit ihren geschickten
Fingern brillierte und er mit seiner schieren Kraft. Und sie schauten
übers Meer zu der paradiesischen Insel, die Kieselstein wie ein
Magnet anzog.
    Und sie versuchten, die Sprache des jeweils anderen zu erlernen.
Das war nicht leicht. Es gab viele Wörter, zum Beispiel
Richtungsangaben wie ›Westen‹, die Kieselsteins Vorfahren
nie gebraucht hatten.
    Er ging sogar mit ihr auf die Jagd.
    Diese Neuankömmlinge betätigten sich vorzugsweise als
Ausputzer oder jagten aus dem Hinterhalt. Wegen ihrer geschmeidigen,
aber schwachen Körper mussten sie die Beute mit List anstatt mit
brutaler Kraft zur Strecke bringen, und ihre bevorzugten Waffen waren
auch keine Hieb- und Stichwaffen, sondern Wurfgeschosse. Aber sie
lernten Kieselsteins Kräfte im Endstadium der Jagd zu
schätzen, wenn die Beute auf kurze Distanz erlegt werden
musste.
    Inzwischen stellten die beiden Arten von Leuten ihr
Verhältnis auf eine neue Grundlage. Sie bekämpften sich
nicht mehr und gingen sich auch nicht mehr aus dem Weg, was die
bisherige Verhaltensmaxime der Leute gewesen war.
    Stattdessen trieben sie Handel. Im Austausch für
Meeresfrüchte und Gegenstände wie die soliden
Stoßspeere erhielten Kieselsteins Leute

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