Evolution
des Denkens zu verleihen und das Einreißen
der Bewusstseins-Barrieren zu ermöglichen – und eine enorm
verstärkte Wahrnehmung.
Indes hatte die Neuverdrahtung eines so komplizierten organischen
Computers zwangsläufig Begleiterscheinungen, die nicht alle
erfreulich waren.
Es war nicht nur die Migräne. Mutter litt an etwas, das
vielleicht als eine Art Schizophrenie zu diagnostizieren gewesen
wäre. Die Symptome waren durch den Tod ihres Sohns
ausgelöst worden. Schon im ersten Aufflackern menschlicher
Kreativität stand Mutter stellvertretend für die vielen
defizitären Genies, die die Menschheitsgeschichte in
zukünftigen Generationen erhellen und zugleich verdüstern
sollten.
Es gab hier keine Polizei. Aber unberechenbare Killer waren in
einer so kleinen, eng verwobenen Gemeinschaft nicht tragbar. Also kam
man sie abholen.
Aber sie war schon weg.
Allein wanderte sie durch die Savanne, zurück zu dem Ort, wo
sie zuletzt gelagert hatten – zur ausgetrockneten Schlucht. Die
Grabstelle war inzwischen so verwittert und überwuchert, dass
wohl nur sie noch imstande war, sie zu identifizieren.
Sie riss die Pflanzen aus, das Gras und die Sträucher. Dann
nahm sie einen Grabstock und grub ein Loch, wie der lang tote
Kieselstein nach dem Maniok gegraben hatte.
Schließlich fiel ihr Blick in etwa einem Meter Tiefe auf das
Weiß von Knochen. Das erste Fragment, das sie barg, war eine
Rippe. Im grellen Sonnenlicht schimmerte es weiß, bar von
Fleisch und Blut; sie staunte über den Fleiß der
Würmer. Aber sie hatte es nicht auf die Rippen abgesehen. Sie
ließ den Knochen fallen und stieß die Hände in den
Boden. Sie wusste, wo sie suchen musste – denn sie erinnerte
sich an jede Einzelheit des furchtbaren Tages, als sie Still in
dieses Loch geworfen hatten, wie er mit wackelndem Kopf und schlaffen
Gliedern hineingefallen war, wobei die dünnen Beine noch mit dem
Kot verschmiert waren, den er im Todeskampf abgesondert hatte.
Bald schlossen ihre Hände sich um seinen Kopf.
Sie holte den Schädel heraus und schaute in die
Augenhöhlen. Der Kiefer wurde noch von einem Knorpelfetzen
festgehalten, doch dann riss das verwesende Gewebe, und der Mund
öffnete sich, als ob das tote Kind ihr noch etwas sagen wollte.
Doch der Mund klaffte grotesk immer weiter auf, und ein fetter Wurm
krümmte sich, wo die Zunge gewesen war. Und dann löste der
Kiefer sich und fiel in den Schmutz.
Das machte aber nichts. Er brauchte schließlich keinen Mund
mehr. Was waren schon ein paar Zähne? Sie spuckte auf den
Schädel und wischte mit der Handfläche den Schmutz ab. Dann
wiegte sie den Schädel summend.
Als sie zum See zurückkehrte, warteten die Leute schon auf
sie. Sie waren alle da, außer den kleinsten Kindern, und die
Mütter mit Kindern. Ein paar der Erwachsenen waren mit
Steinmessern und Holzspeeren bewaffnet, als ob Mutter ein
bösartiger Elefantenbulle sei, mit dessen Angriff sie jederzeit
rechneten. Genauso viele Leute aus der Gruppe waren jedoch eher
betrübt als feindselig. Da war zum Beispiel Schössling. Er
hatte sich die Speerschleuder an einer Schnur aus Sehnen auf den
Rücken gehängt und betrachtete mit umflorten hellblauen
Augen die Frau, die ihn so viel gelehrt hatte. Viele von ihnen trugen
sogar noch die Zeichen auf der Haut oder auf der Kleidung, zu denen
sie sie inspiriert hatte.
Sauers einziges überlebendes Kind war ein dreizehn Jahre
altes Mädchen. Sie war immer schon pummelig gewesen, und diese
Veranlagung hatte sich noch verstärkt, wo sie nun zur Frau
heranreifte; sie hatte schon große, hängende Brüste.
Und ihre Hautfarbe war ein seltsames Gelbbraun wie Honig – das
Erbe einer zufälligen Begegnung mit einer umherstreifenden
Gruppe aus dem Norden, die vor ein paar Generationen stattgefunden
hatte. Nun starrte dieses Mädchen, Honig – Mutters Cousine
– Mutter verständnislos und zornig zugleich an. Ihr
schmutziges Gesicht war tränenüberströmt.
Ob feindselig, traurig, mitleidig oder verwirrt, sie waren alle
unsicher. Als sie diese Unsicherheit bemerkte, verspürte Mutter
eine innere Wärme. Ohne zu schreien, ohne Gewalt anzuwenden,
auch nur ohne eine Geste hatte sie die Lage unter Kontrolle.
Sie hielt den Schädel hoch und drehte ihn, sodass sein leerer
Blick auf die Leute fiel. Sie schnappten nach Luft und zuckten
zusammen, doch die meisten machten eher einen verblüfften als
einen ängstlichen Eindruck. Was wollte sie denn mit dem alten
Schädel?
Ein Mädchen wandte sich jedoch ab, als ob
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