Evolution
was sie zuvor nie für möglich gehalten
hätte.
Sauer freute sich allerdings weniger über Mutters neuen
Status und hielt Abstand zu ihr. Überhaupt hatten die zwei
Frauen seit dem Tod des Jungen kaum noch Notiz voneinander
genommen.
Dennoch reichten die Entwürfe, ob von ihr oder von anderen,
noch lange nicht an die glühende geometrische Perfektion heran,
die ihr lautlos durch den Kopf zog. Sie gelangte fast an einen Punkt,
wo sie sich fast wieder den Schmerz zurückwünschte, damit
sie sie wieder zu sehen vermochte.
Manchmal machten die Veränderungen in ihrem Bewusstsein ihr
Angst. Was bedeutete das? Sie suchte instinktiv nach
Verbindungen, wie es ihre Natur war. Welche Verbindung sollte es
zwischen einem Lichtblitz im Auge und einem am Himmel dräuenden
Sturm aber geben? Verursachte der Sturm das Licht im Kopf, oder war
es anders herum?
Das Leben ging weiter, der endlose Zyklus des Atmens, der
Nahrungssuche, des Aufgangs von Sonne und Mond, das langsame Altern
des Körpers. Mit der Zeit versank Mutter immer tiefer in den
seltsamen Sinneswahrnehmungen. Sie sah bald überall Verbindungen. Es war, als ob die Welt von einem Geflecht aus
Ursachen durchzogen wäre wie von den Strängen eines
riesigen, unsichtbaren Spinnennetzes. Sie hatte das Gefühl, als
ob sie und ihre Persönlichkeit sich auflösten.
Doch bei allen Innenansichten klammerte sie sich an die Erinnerung
an ihren Sohn, eine Erinnerung, die wie ein nicht enden wollender
Schmerz war, wie der Stumpf eines amputierten Glieds.
Und allmählich hatte sie das Gefühl, dass Stills Tod im
Brennpunkt all dieser Kausalzusammenhänge lag.
Es wurde eine stillschweigende Vereinbarung getroffen, die Zelte
abzubrechen. Die Leute bereiteten sich auf die Fortsetzung der
Wanderung vor.
Mutter kam mit ihnen. Schössling und andere zeigten sich
erleichtert. Ein paar hatten schon geglaubt, dass sie vielleicht
darauf bestehen würde, bei dem Loch in der Erde zu bleiben, das
die Gebeine ihres Sohns enthielt.
Nach einem langen Marsch errichteten sie in der Nähe eines
Sees mit einem morastigen Ufer ein neues Lager. Sie schlugen die
Zelte auf und bereiteten sich Schlafstätten. Wegen der
anhaltenden Trockenheit war das Leben aber hart, und die Kinder und
die Alten litten besonders.
Eines Tages brachte Schössling Mutter den Kopf eines jungen
Straußenvogels. Der Hals war eine Handlänge unter dem Kopf
durchtrennt und der Kopf selbst von einem Speer durchbohrt
worden.
Einen fliehenden Straußenvogel zu erlegen, den kleinen Kopf
eines rennenden Vogels aus fünfzig oder gar siebzig Metern
Entfernung zu treffen, war wirklich eine Leistung. Nach monatelanger
Übung hatten Schössling und die anderen jungen Jäger
gelernt, mit dem Speerkatapult ihre Waffen mit größter
Genauigkeit über nie dagewesene Entfernungen zu werfen. Mit
wachsender Zuversicht waren die Jäger immer weiter in der
Savanne ausgeschwärmt, und bald sollten die Beutetiere der
Ebenen sie richtig fürchten lernen. Es war, als ob man die
Jäger mit Schusswaffen ausgerüstet hätte.
Heute platzte Schössling schier vor Stolz auf seine Beute.
Vor der Frau, die ihn im Gebrauch der Speerschleuder unterwiesen
hatte, demonstrierte er, wie er den Speer geschleudert hatte, wie er
sich durchgebogen hatte und davon geschnellt war und wie er
präzise ins Ziel gefunden hatte. »Vogel schnell,
schnell«, sagte er und scharrte mit den Füßen.
»Rennt schnell.« Er zeigte auf sich. »Ich, ich.
Verstecken. Felsen. Vogel schnell, schnell. Speer…« Er
sprang hinter dem imaginären Felsen hervor und führte noch
einmal vor, wie er den Speer ins Ziel geschleudert hatte.
Mutter hatte dieser Tage wenig Zeit für die Leute. Ihre neuen
Wahrnehmungen zogen sie zunehmend in den Bann. Aber sie tolerierte
Schössling, den einzigen Menschen, den sie hatte, den man als
Freund bezeichnen konnte. Abwesend hörte sie seinem Geplapper
zu.
»Wind tragen Geruch. Geruch berührt Strauß.
Strauß rennt. Nun, hier. Stehen, stehen, verstecken. Wind
trägt Geruch. Strauß hier, Wind da, Wind tragen Geruch
weg…«
Seine Sprache war eine Art Pidgin aus einfachen Worten,
Substantiven, Verben und Adjektiven ohne Beugeendungen. Um etwas zu
betonen, kamen noch immer Wiederholungen und die Mimik zum Einsatz.
Und bei der kaum vorhandenen Struktur bediente man sich eines
sprachlichen ›Freistils‹: Es war der Verständigung
nicht gerade förderlich, dass keine zwei Leute, nicht einmal
Geschwister, die gleiche Sprache sprachen.
Dennoch
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