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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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bildete Schössling hin und wieder Sätze. Das
hatte er von Mutter gelernt. Jeder Satz war eine strikte
Subjekt-Verb-Objekt-Zusammensetzung. Die Proto-Sprache der Leute
entwickelte sich schnell aus dieser grundlegenden Struktur. Die
plappernden Leute mussten bereits Fürwörter erfinden – dich, mich, ihn, sie – und verschiedene Arten, um
Handlungen und ihre Ergebnisse auszudrücken: Ich habe
getötet, ich töte, ich habe nicht getötet …
Sie waren in der Lage, Vergleiche und Verneinungen auszudrücken
und Alternativen darzustellen. Sie vermochten allein mit Worten zu
erwägen, heute zum See zu gehen oder nicht zum See zu gehen, wo
sie zuvor die Richtung dorthin hatten einschlagen oder sich in
Gruppen aufteilen müssen.
    Es war aber noch keine richtige Sprache. Sie war nicht einmal so
differenziert wie Creolisch. Aber es war ein Anfang, und sie
entwickelte sich schnell.
    Im Grunde hatte Mutter diese grundlegende Satzstruktur auch nur
entdeckt und nicht erfunden. Ihre zentrale Logik spiegelte
nämlich das tiefe Verständnis der Welt wider, das die
Hominiden hatten – einer Welt voller Gegenstände mit
Eigenschaften –, die ihrerseits eine noch tiefere neuronale
Architektur reflektierte, wie sie den meisten Tieren eigen war. Wenn
ein Löwe oder ein Elefant zu sprechen vermocht hätte, dann
hätte er genauso gesprochen. Dieses zentrale Paradigma sollte
von fast allen der Myriaden menschlicher Sprachen geteilt werden, die
in der Zukunft sich herausbildeten: eine Universalschablone, die die
essentielle Kausalität der Welt und ihrer menschlichen
Wahrnehmung reflektierte. Aber es hatte Mutters dunklen Genies
bedurft, um dieser tiefen Architektur Ausdruck zu verleihen und den
linguistischen Überbau zu inspirieren, der alsbald folgte.
    Und nun wurde es Zeit für den nächsten Schritt.
    Schössling sagte etwas, bei dem sie aufhorchte: »Speer
töten Vogel«, sagte er aufgeregt. »Speer töten
Vogel, Speer töten Vogel…«
    Sie runzelte die Stirn. »Nein, nein.«
    Er verstummte mitten im Satz. Er war so in seine Darbietung
versunken, dass er ihre Anwesenheit vergessen zu haben schien.
»Speer töten Vogel.« Er imitierte den Flug des Speers,
hob den abgetrennten Straußenkopf auf und beschrieb mit den
Händen die authentische Bahn des auf ihn zufliegenden
Speers.
    »Nein!«, schrie sie ihn an. Sie stand auf und packte ihn
an der Hand. »Du heben Hand.« Sie drückte ihm
die Speerschleuder in die Hand. »Hand schieben Stock. Stock
schieben Speer. Speer töten Vogel.«
    Er wich verwirrt zurück. »Speer töten Vogel.« Habe ich das denn nicht gesagt?
    Ungehalten fing sie noch mal von vorne an. »Du heben
Hand… Speer töten Vogel. Du töten Vogel.« Es
bestand zwar eine Kausalkette, aber die Intention entsprang
nur einem Ort: Schösslings Kopf. Sie sah es ganz deutlich. Er
hatte den Vogel getötet, nicht der Speer. Sie hieb ihm auf den
Kopf. Hier ist der Vogel gestorben, du Dummbatz. In deinem
Bewusstsein. Der Rest ist nur noch eine Formsache. Sie zankten
sich noch für eine Weile, doch Schössling wurde zunehmend
verwirrt. Die schlichte jungenhafte Freude über die Beute legte
sich nun, da seine Prahlerei in diese philosophische Erörterung
›ausgeartet‹ war.
    Plötzlich schoss Mutter ein stechender Schmerz durch die
Schläfen – so plötzlich, wie Schösslings Speer
aus gehärtetem Holz sich durch den Kopf dieses Pechvogels von
Strauß gebohrt haben musste. Sie brach in die Knie und presste
sich die Fäuste gegen die Schläfen.
    Doch in diesem Moment des Schmerzes sah sie plötzlich eine
neue Wahrheit.
    Sie stellte sich vor, wie der Speer in hohem Bogen durch die Luft
flog – wie der helle Blitz in ihrem Kopf –, den
Schädel des Vogels durchstieß und sein Leben
auslöschte. Sie wusste, dass Schössling den Speer
geworfen hatte. Er hatte den Willen besessen, den Vogel zu
töten, und alles andere, was sich daran angeschlossen hatte, war
unerheblich.
    Aber was, wenn sie nicht gesehen hätte, wie
Schössling den Speer geworfen hatte? Was, wenn er von einem
Felsen oder einem Baum verdeckt worden wäre? Hätte sie
geglaubt, dass der Speer der eigentliche Grund gewesen sei –
dass der Speer selbst beabsichtigt hätte, den Vogel zu
töten? Nein, natürlich nicht. Auch wenn sie nicht die ganze
Kausalkette sah, musste sie trotzdem existieren. Wenn sie den Speer
fliegen sah, würde sie wissen, dass jemand ihn geworfen haben
musste.
    Ihre besondere Sicht der Welt, des Spinnennetzes aus Ursachen, das
sich aus der

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