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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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Vergangenheit in die Zukunft über die Welt spannte,
vertiefte sich weiter. Wenn ein Straußenvogel von einem Speer
getötet wurde, hatte ein Jäger das gewollt. Und wenn eine
Person starb, war eine andere dafür verantwortlich. So einfach
war das. Das alles sah sie plötzlich und begriff es auf einer
tiefen, intuitiven Ebene unterhalb der Sprache, während neue
Verbindungen in ihrem komplexen, schnell sich entwickelnden
Bewusstsein geknüpft wurden.
    Die Logik war klar und zwingend. Erschreckend – und
tröstlich.
    Und sie wusste auch, welche Konsequenzen sie aus dieser neuen
Erkenntnis zu ziehen hatte.
    Sie wurde sich bewusst, dass Schössling vor ihr kniete und
sie an den Schultern fasste. »Weh? Kopf? Wasser. Schlafen.
Hier…« Er fasste sie am Arm und half ihr beim
Aufstehen.
    Dieser Schmerz war blitzartig gekommen und ebenso schnell wieder
verschwunden, wie ein Meteor, der eine Spur aus zerrissenen und neu
verknüpften Verbindungen im Kopf hinterlassen hatte. Sie stand
auf, ging an ihm vorbei und zur Siedlung zurück. Es gab im
Moment nur eine Person, von der sie etwas wollte, eine Sache, die sie
zu erledigen hatte.
    Sauer war in der Behausung, einem primitiven Unterstand aus
Palmwedeln, und machte Siesta.
    Mutter stellte sich über sie. In den Händen hielt sie
einen großen Stein, den sie gerade noch zu tragen vermochte.
Sie wiegte ihn, wie sie einst Still gewiegt hatte.
    Mutter hatte nie den Tag vergessen, an dem Still krank geworden
war. An jenem Tag hatte sich für sie alles geändert, als ob
das Land sich um sie gedreht hätte, als ob die Wolken und Felsen
die Plätze getauscht hätten. Und sie hatte auch Sauers
Grinsen nicht vergessen. Wenn ich schon kein Kind bekommen kann, hatte sie gesagt, freue ich mich wenigstens darüber, dass
du deins verlierst.
    Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Stills Tod war kein
Zufall gewesen. In Mutters Universum geschah nichts zufällig:
nicht mehr. Alles war verbunden, alles hatte eine Bedeutung. Sie war
die erste Verschwörungs-Theoretikerin.
    Und die erste Person, die sie anklagte, war ihre nächste
überlebende Verwandte.
    Mutter wusste nicht, wie Sauer das Verbrechen verübt
hatte. Vielleicht durch einen Blick, ein Wort, eine Berührung
– heimlich, mit einer unsichtbaren Waffe, die den Jungen so
unerbittlich wie ein hölzerner Speer ums Leben gebracht hatte
–, aber auf das wie kam es auch nicht an. Es kam nur
darauf an, dass Mutter nun wusste, wen sie zur Verantwortung ziehen
musste.
    Sie hob den Stein.
    Im letzten Moment wurde Sauer durch Mutters Bewegung geweckt. Und
sie sah den Stein, der ihr auf den Kopf fiel. Ihre Welt ging so
gründlich und plötzlich unter, wie die Erde der Kreidezeit
vom Teufelsschweif ausgelöscht worden war.
     
    Das Hominiden-Gehirn war, durch die Anforderung steigender
Intelligenz befeuert und durch die neue fettreiche Nahrung der Leute
genährt, schnell gewachsen. Es war jetzt schon größer
als jeder Computer, den die Menschen jemals bauen sollten. In Mutters
Kopf befanden sich hundert Milliarden Neuronen, wechselwirkende
biochemische Schalter, deren Zahl mit der Anzahl der Sterne in der
Galaxis vergleichbar war. Und jeder dieser Schalter vermochte
hunderttausend verschiedene Stellungen einzunehmen. Und diese
geballte Ladung schwamm in einer mit über tausend Chemikalien
angereicherten Flüssigkeit, die in Abhängigkeit von Zeit,
Jahreszeiten, Belastung, Ernährung, Alter und hundert anderen
Einflüssen variierte, die alle sich auf die Funktion der
Schalter auswirkten.
    Vor Mutter war das Bewusstsein der Leute segmentiert und das
schwach ausgeprägte Unterbewusstsein für soziale Zwecke
reserviert, während die spezialisierten Module für solche
Funktionen zuständig waren wie Werkzeugherstellung und
Umweltverständnis und für grundlegende physiologische
Funktionen wie das Atmen. Die verschiedenen Funktionen des Gehirns
hatten sich bis zu einem gewissen Grad voneinander isoliert
entwickelt, wie Subroutinen ohne integrierendes Master-Programm.
    Dennoch war dieser hochkomplexe biochemische Computer sehr
störanfällig. Und er neigte zur Mutation.
    Der physikalische Unterschied zwischen Mutters Gehirn und denen
ihrer Artgenossen war geringfügig: Er war das Resultat einer
winzigen Mutation, einer kleinen Änderung in der chemischen
Zusammensetzung des Fetts im Schädel und einer leichten
Neuverdrahtung der neuronalen Schaltkreise, die ihrem Bewusstsein
zugrunde lagen. Doch genügte das bereits, um ihr eine neue
Flexibilität

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