Evolution
ein
Höhepunkt des Jahres, auf den alle sich freuten, auch wenn sie
dafür einen mehrtägigen Marsch über die Tundra auf
sich nehmen mussten.
Aber nicht alle konnten daran teilnehmen: Die kleinen Kinder, die
Alten und Kranken vermochten die Reise nicht zu unternehmen, und es
musste auch jemand dableiben, der sich um sie kümmerte. Dieses
Jahr waren Rood und Mesni zum ersten Mal seit vielen Jahren von der
Bürde der Kinder befreit – außer der Jüngsten,
die aber noch so klein war, dass sie sie zu tragen vermochten –
und waren somit in der Lage, die Reise anzutreten.
Rood wäre es natürlich lieber gewesen, wenn er seine
Kinder noch gehabt hätte, auch wenn er dann hätte zu Hause
bleiben müssen. Aber er glaubte, dass sie das Beste aus ihrem
Leben machen mussten und drängte Mesni, mit ihm zur
Zusammenkunft zu gehen. Mesni wollte aber daheim bleiben. Sie wandte
sich von ihm ab und zog sich wieder in ihre tiefe Trauer zurück.
Also beschloss Rood, mit Olith zu gehen – Mesnis Schwester, der
Tante seiner Kinder. Olith hatte selbst schon einen erwachsenen Sohn,
aber ihr Mann war vor zwei Wintern an einer Hustenkrankheit
gestorben, sodass Olith zur Witwe geworden war.
Die Reisegesellschaft trat den Marsch über die Tundra an.
In diesem Zwischenspiel aus Wärme und Licht wimmelte der
Boden unter den Füßen nur so von Leben: Da wuchsen
Steinbrech, Tundrablumen, Gräser und Flechten. Wolken von
Insekten hingen in der feuchten Luft über den Teichen und
paarten sich eifrig. Große Schwärme von Gänsen, Enten
und Watvögeln suchten in den seichten Tundra-Seen nach Nahrung
und lagerten dort. Olith fasste Rood am Arm und deutete auf
Stockenten, Schwäne, Schneegänse, Haubentaucher,
Basstölpel und Kraniche, die majestätisch einher schritten
und die Luft mit einer Kakophonie erfüllten. An diesem Ort, wo
die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, bauten die meisten
Vögel ihre Nester auf dem Boden. Als sie dem Nest einer
Raubmöwe zu nahe kamen, stürzten zwei Vögel mit
schrillen Schreien sich auf sie. Und obwohl die meisten
Pflanzenfresser erst noch aus dem Süden zurückkehren
mussten, erblickten die Leute schon Herden von Hirschen und Mammuts,
die wie die Schatten von Wolken durch die Landschaft zogen.
Aber es war schon seltsam, sagte Rood sich, dass er an jeder
beliebigen Stelle nur ein paar Armlängen tief unter diesem
Flickenteppich aus Farbe und Bewegung hätte graben müssen,
um wieder auf Eis zu stoßen, den gefrorenen Boden, in dem es
kein Leben gab.
»Es ist schon so lange her, dass ich diesen Weg gegangen
bin«, sagte Rood, »dass ich gar nicht mehr weiß, was
es hier alles zu sehen gibt.«
Olith drückte seinen Arm und ging auf Tuchfühlung.
»Ich weiß, wie du dich fühlen musst.«
»Dass jeder Grashalm, jeder sich wiegende Steinbrech eine
Qual ist, eine Schönheit, die ich nicht verdient habe.«
Entfernt nahm er den Geruch des Pflanzenöls wahr, das sie sich
ins kurze Haar rieb. Sie war nicht wie ihre Schwester Mesni; Olith
war größer und sehniger, hatte aber volle Brüste.
»Die Kinder sind noch da«, erinnerte Olith ihn.
»Ihre Seelen werden in den nächsten Kindern weiterleben,
die ihr bekommt. Sie waren noch zu jung, um selbst Weisheit zu
sammeln. Aber sie trugen die Seelen ihrer Großeltern in sich,
und sie werden…«
»Ich habe nicht mehr bei Mesni gelegen«, sagte er,
»seit wir Jahna und Millo zuletzt gesehen haben. Mesni hat sich
– verändert.«
»Das ist eine lange Zeit«, murmelte Olith sichtlich
erstaunt.
Rood zuckte die Achseln. »Nicht lang genug für Mesni.
Vielleicht wird es nie mehr passieren.« Er schaute Olith in die
Augen. »Ich werde keine Kinder mehr mit Mesni haben. Ich glaube
nicht, dass sie noch welche will.«
Olith schaute weg und senkte den Kopf. Das war eine Geste des
Mitgefühls und zugleich der Verführung, wie er sich
verblüfft bewusst wurde.
In dieser Nacht, in der Kälte der offenen Tundra, unter einem
aus Kiefernästen errichteten Wetterschutz, vereinigten sie sich.
Wie damals, als er die Knochenkopf-Kuh genommen hatte, wurde Rood von
den Schuldgefühlen und den ständigen nagenden Zweifeln
entlastet. Olith bedeutete ihm natürlich viel mehr als jedes
Knochenkopf-Weib. Als Olith danach in seinen Armen lag, spürte
er jedoch, wie das Eis sein Herz wieder einschloss, als ob er mitten
im Frühjahr noch im tiefsten Winter gestrandet wäre.
Nach einer viertägigen Wanderung erreichten Rood und Olith
das Flussufer.
Es hatten sich bereits Hunderte von Leuten
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