Evolution
war
noch sehr rüstig.
Die Leute lebten auf einem Hochplateau. Das Land war trocken,
flach und eintönig. Die Vegetation war spärlich und bohrte
die Wurzeln auf der Suche nach Wasser tief in den Boden. Es gab wohl
Bäche und Flüsse, aber das waren bloße Rinnsale, die
zwischen weit auseinander liegenden Ufern dahinplätscherten
– ein schwacher Abglanz der Ströme, die hier einst
durchgeflossen waren.
Die nackten Frauen, die nur mit einem Seil und kurzen Speeren mit
Steinspitzen ausgerüstet waren, durchstreiften das Gelände
und stellten und kontrollierten Fallen für die kleinen Tiere,
von denen die Leute hauptsächlich lebten. Sie hätten
gestaunt, wenn sie die mächtigen Herden der Pflanzenfresser
gesehen hätten, denen Jahna und ihre Leute einst gefolgt waren,
obwohl ihre Legenden von besseren Zeiten in der Vergangenheit
kündeten.
»Wieso trinken die Männer eigentlich Bier?«, fragte
Juna. »Das macht sie hässlich und dumm. Und sie müssen
zu diesem schleimigen Cahl gehen. Wenn sie schon Bier trinken
müssen, sollten sie wenigstens ihr eigenes brauen. Zwar
wären sie dann noch genauso blöd. Aber wenigstens
würde Cahl wegbleiben.«
Sheb seufzte. »So einfach ist das nicht. Wir können kein Bier brauen. Niemand weiß, wie das geht;
nicht einmal der Schamane. Das ist ein Geheimnis, das Cahls Leute
nicht preisgeben.«
»Wenn die Männer dumm sind, können sie nicht jagen.
Sie denken immer nur an das Bier. Sie kennen nichts anderes
mehr.«
Sheb schüttelte den Kopf. »Ich will mich nicht mit dir
streiten, Kind. Mein Vater hat nie Bier getrunken – wir hatten
damals nicht einmal von Bier gehört –, und er war
ein guter Jäger… aber schau. Da ist ein Kaninchen in der
Nähe.«
Juna untersuchte die Kaninchenlosung und drückte sie zwischen
den Fingern, um zu prüfen, wie alt sie war. Die Sache mit Tori
brannte ihr im Herzen und auf der Zunge.
Aber Sheb gab ein anderes Thema vor. »Ich weiß noch,
als ich in deinem Alter war«, sagte sie. »Einmal regnete
es, als ob der Himmel seine Schleusen geöffnet hätte –
tagelang. Der Boden verwandelte sich in Schlamm, in den wir alle bis
zu den Knien einsanken. Und dieses Tal hier wurde mit Wasser
gefüllt – nicht etwa das lehmige Rinnsal, das du nun siehst
–, sondern bis hinauf zum Ufer. Siehst du die blank geschliffene
Kante?« Und wirklich, als Juna genau hinschaute, erkannte sie,
dass das Ufer weit über der heutigen Wasserlinie erodiert
war.
Und wenn schon! Abwesend rieb Juna sich den Bauch. Die Geschichten
ihrer Großmutter von heftigen Regenstürmen, einem in
Schlamm verwandelten Land und dem Leben, das daraufhin erblüht
war, waren die phantastischen Visionen des Schamanen. Ihr bedeuteten sie nichts. Was waren Regen und Flüsse schon im
Vergleich zum wachsenden Klumpen in ihrem Innern?
Ihre Großmutter gab ihr eine Kopfnuss. Juna zuckte
erschrocken zusammen. Sheb schaute grimmig, sodass ihr Gesicht tief
zerfurcht wurde. »Es könnte nicht schaden, wenn du mir
zuhörst, du dummes Kind. Ich erinnere mich daran, wie es war, als der letzte Regen fiel. Ich erinnere mich, wie wir uns
umgestellt haben. Wie wir ins Hochland umgezogen sind. Wie wir den
Fluss überquert haben. An alles. Vielleicht werde ich es nicht
mehr erleben, wenn der nächste Regen fällt – aber
vielleicht wirst du es erleben. Und dann wird dein Überleben
davon abhängen, was ich dir heute erzähle…«
Juna wusste, dass sie Recht hatte. Alten Leuten wurde eine
große Wertschätzung entgegengebracht: Juna hatte gesehen,
dass, bevor Shebs Mutter gestorben war, Sheb ihr das Essen vorgekaut
und in eine Schüssel gespien hatte. In dieser Gesellschaft ohne
Schrifttum waren alte Leute ein Archiv der Weisheit und Erfahrung.
Und nun bestand sie darauf, dass ihre Enkeltochter ihr
zuhörte.
Nur dass Juna heute nicht gewillt war, ein braves Mädchen zu
sein. Sie versuchte den Trotzkopf zu spielen, fügte sich aber
schließlich doch unter Shebs bösem Blick. »Ach.
Sheb…« Plötzlich brach sie in Tränen aus; sie
legte den Kopf auf Shebs Schulter, und die Tränen benetzten den
trockenen Boden.
»Na sag schon. Was gibt’s denn so Schlimmes?«
Sheb hörte sich ruhig an, was Juna zu sagen hatte. Dann
stellte sie gezielte Fragen: Wer der Vater sei, ob er ihr sich
genähert hätte oder umgekehrt und wieso sie gerade jetzt
hatte schwanger werden wollen. Die Auskunft, dass es sich um
jugendlichen Leichtsinn gehandelt habe, schien ihr gar nicht zu
gefallen. Auf Junas verzweifelte Frage –
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