Evolution
»Sheb, was soll
ich denn nur tun?« – antwortete sie nicht; zumindest nicht
sofort.
Doch Juna glaubte, die Umrisse ihrer Zukunft in Shebs harten und
traurigen Gesichtszügen zu erkennen.
Plötzlich drang ein schriller Schrei aus dem Dorf zu ihnen.
Juna fasste ihre Großmutter am Arm und eilte mit ihr nach
Hause.
Wie sich herausstellte, hatten bei Pepule, Junas Mutter und Shebs
Tochter, vorzeitig die Wehen eingesetzt.
Als sie mit Sheb ins Lager kam, sah Juna, wie der Bier-Mann, Cahl,
ostwärts zu seiner geheimnisvollen Heimat aufbrach. Er hatte
einen Sack mit Gütern überm Arm und scherte sich nicht um
die Schmerzensschreie der Frau, die er noch am Morgen bestiegen
hatte. Juna schaute ihm in kalter Wut hinterher.
In Pepules Hütte hatten Sion und andere Hebammen sich
versammelt. Juna eilte zu Pepule. Sie schaute ihre Tochter mit
verquollenen, schmerzerfüllten Augen an und ergriff Junas Hand.
Juna sah eine Quetschung in Form eines Handabdrucks auf der prallen
Brust ihrer Mutter.
Wie in solchen Fällen üblich hatten die Frauen einen
Holzrahmen aufgestellt, vor dem Pepule hockte und an dem sie sich
festhielt. Andere befeuchteten den Boden unter Pepule, um ihn
aufzuweichen und hoben daneben ein flaches Loch aus. Es roch nach
Erbrochenem und Blut.
Juna hatte schon bei vielen Geburten zugeschaut und geholfen, doch
wo sie nun selbst eine kleine Last in sich trug, teilte sie den
Schmerz wie nie zuvor.
Wenigstens war es eine schnelle Geburt. Das Baby fiel einer von
Pepules Schwestern förmlich in die Arme. Mit einem schnellen,
routinierten Handgriff durchtrennte sie die Nabelschnur, band sie mit
einem Sehnenstreifen ab und wischte das Fruchtwasser mit einem
Stück Leder ab. Dann versammelten die älteren Frauen,
einschließlich Sheb, sich ums Baby und unterzogen es einer
gründlichen Musterung.
Juna verspürte eine plötzliche, unerwartete Aufwallung
von Freude. »Es ist ein Junge«, sagte sie zu Pepule.
»Er sieht kerngesund aus…«
Ihre Mutter schaute sie mit leerem Blick an und wandte sich dann
ab. Juna vernahm ein Gemurmel von den Frauen, die das Baby
begutachteten; eine von ihnen schaute Juna missbilligend an.
Nun sah Juna auch, was sie da machten. Sie hatten das Baby auf den
Boden gelegt, wo es die ersten Atemzüge tat. Juna sah die
blonden Haarsträhnen des Jungen, die durchs Fruchtwasser am Kopf
klebten. Pepules Schwester nahm einen Stock und schob das Baby ins
Loch, das die Frauen gegraben hatten – als ob sie ein Stück
vergammeltes Fleisch von sich schöbe. Dann schickten die Frauen
sich an, das Loch zuzuschütten. Die erste Erde fiel auf das
verständnislose Gesicht des Babys.
»Nein!« Juna ging dazwischen.
Sheb packte sie mit erstaunlicher Kraft an den Schultern und schob
sie zurück. »Es muss sein.«
Juna wand sich in ihrem Griff. »Aber er ist doch
gesund.«
»Es«, sagte Sheb. »Nicht er. Nur Leute sind er, und dieses Baby ist noch keine Person und wird auch nie
eine werden.«
»Aber Pepule…«
»Schau sie dir an. Schau, Juna. Sie macht sich nichts draus
und ist auch nicht traurig. So ist das eben. Sie fühlt
überhaupt nichts für das Baby, nicht in diesen ersten paar
Herzschlägen, wenn die Entscheidung getroffen werden muss. Wenn
es leben sollte, um ein er zu werden, dann würde das Band
natürlich stark werden. Aber das Band besteht noch nicht, und
nun wird es auch nicht mehr…«
Und so weiter.
Pepule hustete. Sie schien erschöpft – Juna sagte sich,
dass Cahl noch vor ein paar Stunden bei ihrer Mutter gelegen hatte
und fragte sich, welchen Dreck er ihr wohl vermacht hatte.
Und Sheb redete noch immer auf sie ein.
Schließlich senkte Juna den Kopf. »Aber das Baby ist
doch gesund«, flüsterte sie. »Er ist doch
gesund.«
Sheb seufzte. »Ach, Kind, begreifst du es denn nicht? Wir
können es nicht ernähren, und wenn es noch so gesund
ist. Dies ist nicht die Zeit für ein Kind, jedenfalls nicht
für Pepule.«
»Und ich?«, flüsterte Juna und hob den Kopf.
»Was wird aus mir und meinem Baby?«
Shebs Augen umwölkten sich.
Juna entzog sich ihrem Griff und rannte aus der Hütte mit
ihrem Gestank nach Kot, Blut und vergeudeter Milch.
Die beiden Schwestern saßen tuschelnd in einer Ecke der
kleinen Hütte, die sie schon als Kinder für sich gebaut
hatten.
Juna hatte Sion alles erzählt.
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Das ist alles. Ich
wusste es in dem Moment, als sie das Baby in dieses Loch schoben.
Pepule ist stark und erfahren, aber ich bin noch ein Kind. Und
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