Evolution
gerade Waffen und
Wertsachen in einen Sack stopfte. »Ich bin fertig«, sagte
sie.
Er schaute sie an, wie sie mit den Kindern im Arm vor ihm stand.
Er lief zu ihr und küsste sie fest auf den Mund. »Ich liebe
dich, bei den Eiern des Potus. Falls er überhaupt noch welche
hat.«
Sie wunderte sich über diesen Gedankensprunn. »Was soll
er noch haben?«
»Das ist eine schlechte Nacht für Cata Huuk«, sagte
er grimmig. »Und für uns, wenn wir Pech haben.« Er
drehte sich um, schulterte den Sack und ging zur Tür.
»Komm. Wir werden durch den Hinterausgang
verschwinden!«
Sie schlichen sich aus dem Haus, und nun sah sie auch die
Brandstelle. Der große gelbe Palast des Potus brannte
lichterloh; die Flammen schlugen hoch, und Funken stoben. Juna
hörte Schreie aus dem Innern des Palasts und sah umherirrende
Leute.
Die Straßen waren voller Menschen. Die ausgemergelten und
schmutzigen Gestalten waren mit zerrissenen Tierhäuten und
Lumpen aus Pflanzenfasern bekleidet und schwärmten nun aus wie
hungrige Ratten. Für Juna hatte das kakophonische Stimmengewirr
des Mobs nichts Menschliches mehr: Es glich eher dem Krachen eines
Donners oder dem Grollen eines Gewitters, das jedweder menschlicher
Kontrolle entzogen war. Sie packte die Kinder und versuchte die Angst
zu unterdrücken. »Es ist der Hunger«, sagte sie.
»Ja.«
Hungersnot: Das war auch so ein Wort, das Juna hatte lernen
müssen. Der größte Teil der Weizenernte der Farmen in
der Gegend war durch eine Krankheit vernichtet worden, die niemand
kannte und zu heilen vermochte. Wegen der ausgefallenen Ernte war
eine Hungersnot ausgebrochen. Der Aufstand hatte sich mit der
Ermordung der Tribut-Sammler angebahnt, die das eintreiben wollten,
was des Potus war. Und nun war es zum offenen Aufstand gekommen.
Junas Leute lebten von vielerlei Wildpflanzen, die, anders als eine
monokulturelle Getreidesorte, nicht allesamt vernichtet wurden, wenn
eine Seuche ausbrach. Hungersnot: auch eine Kehrseite der neuen
Lebensweise.
Die Familie schlich sich gesenkten Hauptes durch enge Gassen zum
hinteren Tor.
»Es gibt eine neue Siedlung westlich von hier, an der
Küste«, sagte Keram. »Das Ackerland ist gut, und das
Meer enthält Nahrung in Hülle und Fülle. Es ist eine
Reise von vielen Tagen, aber…«
»Wir werden es schaffen«, sagte sie entschlossen.
Er nickte knapp. »Wir müssen es schaffen.«
Schließlich erreichten sie das offene Tor, wo Muti auf sie
wartete. Die drei verschwanden mit den Kindern im Arm in der
Nacht.
Auf ihrer Wanderung nach Westen kamen sie überall durch ein
Land, das von Bauern und Städtebauern umgewandelt worden war.
Selbst das Land, das Juna nach der Flucht aus der Heimat einst mit
Cahl durchquert hatte, hatte sich bis zur Unkenntlichkeit
verändert – so schnell war die Expansion
vorangeschritten.
Diese Expansion war dadurch bedingt, dass das Ackerland alsbald
knapp wurde. Die Kinder der Bauern wollten jeder ein eigenes
Stück Land haben, um es zu bewirtschaften, wie ihre Eltern es
getan hatten. Das war aber kein Problem. Das Wissen der Bauern war
nämlich nicht auf ein bestimmtes Stück Land
beschränkt, wie es bei den Jägern und Sammlern der Fall
gewesen war. Sie befleißigten sich vielmehr einer
systematischen Denkweise: Sie wussten, wie sie das Land
verändern mussten, damit es ihren Bedürfnissen entsprach
– und das galt für jedes Land. Sie mussten die jeweils
herrschenden Bedingungen nicht als gegeben hinnehmen. Für Bauern
war Kolonisierung einfach.
Und so nahm von den ersten primitiven Farmen im Osten Anatoliens
die große Expansion ihren Lauf. Es war eine Art Krieg, der
gegen Mutter Erde selbst geführt wurde, während sie den
Bedürfnissen der zunehmenden Anzahl menschlicher hungriger
Mäuler angepasst wurde. Diese Expansion ging mit erstaunlicher
Geschwindigkeit vonstatten und sollte bald über das
Verbreitungsgebiet des Homo erectus und früherer Arten
des Menschen hinausschwappen.
Jedoch griff diese Expansion nicht etwa in ein Vakuum aus, sondern
in ein Land, das von den alten Gemeinschaften der Jäger und
Sammler besetzt war.
Eine ›friedliche Koexistenz‹ war natürlich ein Ding
der Unmöglichkeit. Es war dies ein Konflikt zwischen zwei
diametral entgegen gesetzten Einstellungen gegenüber dem Land.
Die Jäger betrachteten das Land als einen Ort, in dem sie
verwurzelt waren – wie die Bäume, die dort wuchsen.
Für die Bauern hingegen war es eine Ressource, die man
besaß, kaufte, verkaufte und in Parzellen
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