Evolution
alle
Lebensformen mit jeder Generation schwächer werden?«
Honorius schüttelte den Kopf. »Gewiss waren nur Männer
mit Kühnheit und Wagemut imstande, diese mächtige Stadt zu
errichten, Männer, die man in der zerstrittenen und zerrissenen
Welt von heute nicht mehr findet – Männer, die
offensichtlich und tragischerweise ausgestorben sind. Und deshalb
steht es uns wohl an, uns so zu verhalten wie jene, die vor uns da
waren und diesen Ort erbaut haben – und nicht wie jene, die sich
anschicken, ihn zu zerstören.«
Athalarich war von diesen Worten bewegt, obwohl sie ihn subtil
ausschlossen. Athalarich wusste, dass er ein guter Schüler war
und dass Honorius ihn wegen seines Verstands respektierte. Athalarich
hatte allen Grund, sich als Beschützer und sogar als Freund des
alten Mannes zu fühlen – natürlich, denn sonst
hätte er ihn nicht bei der Suche nach uralten Knochen auf seiner
gefahrvollen Reise durch Europa begleitet. Zugleich war Athalarich
sich aber auch bewusst, dass es Mauern in Honorius’ Herz gab,
die genauso massiv und unverrückbar waren wie diese
mächtigen Wände aus weißem Marmor um ihn herum.
Es waren Honorius’ Vorfahren gewesen, die diese Stadt gebaut
hatten, nicht Athalarichs. Athalarich konnte sich noch so sehr
anstrengen, für Honorius würde er immer der Sohn eines
Sklaven – und damit ein Barbar – bleiben.
Ein Mann näherte sich ihnen. Er war in eine Toga
gehüllt, die genauso gediegen war, wie Honorius’ Gewand
verschlissen, doch er hatte eine dunkle, olivfarbene Haut.
Honorius stieß sich vom Sockel ab und straffte sich.
Athalarich verschob den Umhang, sodass das Schwert an der Hüfte
zum Vorschein kam.
Der Mann taxierte sie kühl, wobei er die Hände in einer
Falte der Toga verborgen hatte. »Ich habe schon auf Euch
gewartet«, sagte er in einem stark akzentuierten, aber
einwandfreien Latein.
»Aber Ihr kennt uns nicht«, sagte Honorius.
Der Fremde hob die Augenbrauen und warf einen Blick auf
Honorius’ staubige Toga und Athalarichs üppigen Schmuck.
»Dies ist noch immer Rom, mein Herr. Reisende aus den Provinzen
sind gewöhnlich leicht zu erkennen. Honorius, ich bin derjenige,
den Ihr sucht. Ihr könnt mich Papak nennen.«
»Ein Sassaniden-Name. Ein berühmter Name.«
Papak lächelte. »Ihr seid gebildet.«
Athalarich musterte Papak, während dieser Honorius über
die Widrigkeiten ihrer Reise befragte. Der Name an sich sagte ihm
schon viel: Papak war offensichtlich ein Perser aus dem großen
und mächtigen Land jenseits der Ostgrenzen des schon
geschrumpften Römischen Reiches. Dennoch kleidete er sich wie
ein Römer, sodass nichts auf seine Herkunft schließen
ließ außer seiner Hautfarbe und dem Namen, den er
trug.
Er war mit größter Wahrscheinlichkeit ein Verbrecher,
sagte Athalarich sich. Von diesen Zeiten der zerfallenden Ordnung
profitierten zwielichtige Figuren und kochten ihr Süppchen mit
Habgier, Elend und Furcht.
Er unterbrach Papaks gefälligen Redefluss. »Verzeiht
meine schlechten Manieren«, sagte er listig. »Wenn meine
Kenntnisse der persischen Geschichte mich nicht trügen, war
Papak ein Bandit, der dem Herrscher, dem er die Treue
geschworen hatte, die Krone stahl.«
Papak wandte sich ihm zu. »Kein Bandit«, sagte er
ungerührt. »Sondern ein aufständischer Priester. Und
ein Mann mit Prinzipien. Papak hatte kein einfaches Leben; er musste
schwierige Entscheidungen treffen und führte einen ehrenwerten
Lebenswandel. Dies ist ein ehrenvoller Name, den zu tragen ich stolz
bin. Möchtet Ihr den Adel unsrer Geschlechter wägen? Eure germanischen Vorväter jagten noch Schweine in den
nördlichen Wäldern.«
»Meine Herren«, sagte Honorius, »vielleicht sollten
wir zur Sache kommen.«
»Ja«, blaffte Athalarich. »Die Knochen, mein
Herr. Wir wollten uns hier mit Eurem Skythen treffen und uns seine
Gebeine von Helden anschauen.«
Honorius legte ihm besänftigend die Hand auf den Arm.
Athalarich spürte jedoch die Ungeduld, mit der er Papaks Antwort
erwartete.
Wie Athalarich fast schon erwartet hatte, seufzte der Perser und
breitete die Hände aus. »Ich habe versprochen, dass mein
Skythe sich hier in Rom mit Euch treffen würde. Aber der Skythe
ist ein Mann der östlichen Wüste. Weshalb die
Zusammenarbeit mit ihm sich etwas schwierig gestaltet…
Andererseits hat der Skythe keine Wurzeln und ist daher so
nützlich.« Papak rieb sich bedauernd die fleischige Nase.
»In diesen schlimmen Zeiten ist die Reise aus dem Osten nicht
mehr so
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