Evolution
zu
beschützen.
Der alte Mann hatte einen Sohn gehabt, der in Kindertagen ein
Freund Athalarichs gewesen war. Irgendwann war Honorius mit seiner
Familie und Athalarich zu einer religiösen Feier nach Tolosa im
Süden Galliens gereist. Die Gruppe war von Räubern
überfallen worden. Athalarich hatte nie das Gefühl der
Hilflosigkeit vergessen, als er – selbst noch ein Junge –
mit angesehen hatte, wie die Räuber Honorius geschlagen, seine
Töchter vergewaltigt und den tapferen kleinen Jungen
kaltblütig getötet hatten, als er seinen Schwestern zu
Hilfe eilen wollte. Ein schöner römischer Bürger!
Wo sind eure Legionen nun? Wo sind eure Adler, ihr
Imperatoren?
Irgendetwas war an jenem Tag in Honorius zerbrochen. Es war, als
ob er beschlossen hätte, sich von einer Welt zu verabschieden,
in der die Söhne von Senatoren des Schutzes durch gotische Edle
bedurften und in der Räuber das Innere eines Gebiets unsicher
machten, das einmal eine römische Provinz gewesen war. Obwohl er
seine staatsbürgerlichen und familiären Pflichten nie
vernachlässigt hatte, hatte Honorius sich zunehmend in sein
Studium der Relikte der Vergangenheit vertieft: die geheimnisvollen
Knochen und Artefakte, die von einer verschwundenen Welt
kündeten, bevölkert von Riesen und Ungeheuern.
Im Laufe der Zeit hatte Athalarich eine tiefe Loyalität
gegenüber dem alten Honorius entwickelt. Es war, als ob er den
Platz seines verlorenen Sohns eingenommen hätte, und er war
erfreut, aber nicht überrascht gewesen, als sein Vater ihn als
Student der Rechte in Honorius’ Obhut gegeben hatte.
Honorius’ Geschichte war aber nur eine von unzähligen
ähnlichen Tragödien, die von den unerbittlich waltenden
geschichtlichen Kräften verursacht wurden, die Europa umformten.
Die von den Römern geschaffenen politischen, militärischen
und wirtschaftlichen Strukturen waren schon tausend Jahre alt. Einst
hatte das römische Reich sich über Europa, Nordafrika und
Asien erstreckt: Römische Soldaten hatten sich Scharmützel
mit den Bewohnern Schottlands im Westen ebenso geliefert wie mit
Chinesen im Osten. Das Imperium war auf Expansion angelegt, die
ehrgeizigen Heerführern Triumphe und Händlern Profite
beschert und als schier unerschöpfliche Quelle für Sklaven
gedient hatte.
Als die Expansion jedoch an ihre Grenzen gestoßen war,
vermochte man das System nicht länger aufrechtzuerhalten.
Und dann kam der Punkt des abnehmenden Grenzertrags, wo jeder denarius, der an Steuern eingenommen wurde, in die Verwaltung
und das Militär gesteckt werden musste. Das Imperium wurde immer
komplexer und bürokratischer – und damit immer teurer zu
unterhalten –, und die Ungleichverteilung des
Volksvermögens steigerte sich ins Groteske. Zur Zeit Neros im
ersten Jahrhundert befand das ganze Land vom Rhein bis zum Euphrat
sich im Besitz von gerade einmal zweitausend obszön reichen
Einzelpersonen. Steuervermeidung wurde zum beliebten Sport der
Reichen, und die steigenden Kosten für die Stützung des
Imperiums wurden zunehmend den Armen aufgebürdet. Die alte
Mittelklasse, einst das Rückgrat des römischen Reiches,
zerbrach, ausgeblutet durch Steuern und von oben und unten
ausgepresst. Das Imperium hatte sich von innen aufgezehrt.
Es war aber nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Die
große indoeuropäische Expansion hatte schon viele
Zivilisationen hervorgebracht, große und kleine. Große
Städte waren bereits im Staub der Geschichte begraben und
längst vergessen.
Obwohl der Ursprung des expandierenden Imperiums im Westen gelegen
hatte, war der Osten schließlich zu seinem Mittelpunkt
geworden. Ägypten erzeugte inzwischen dreimal so viel Getreide
wie die reichste westliche Provinz in Afrika, und während die
westlichen Grenzen landhungrigen Germanen, Hunnen und anderen eine
offene Flanke boten, glich der Osten einer riesigen Festung. Der
ständige Fluss von Ressourcen von Ost nach West hatte zu einer
wachsenden politischen und wirtschaftlichen Spannung geführt.
Schließlich – achtzig Jahre vor Honorius’ Besuch in
Rom – war die Trennung zwischen den beiden Hälften des
alten Imperiums endgültig vollzogen worden. Danach hatte der
Niedergang des Westens sich beschleunigt.
In Konstantinopel galt weiterhin das römische Recht, und
Latein blieb die Amtssprache. Wie Athalarich jedoch feststellte, war
die Bürokratie kompliziert und verwirrend – insgesamt
orientalischer. Offensichtlich wurde Konstantinopel durch die
Beziehungen, die es mit den
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