Evolution
auch
nicht intelligent, flink und reaktionsschnell sein; das Gehirn diente
vor allem als Steuergerät für die Biomechanik des
gewaltigen Leibs und regelte Koordination und Motorik. Trotz der
Masse mutete die Matriarchin irgendwie elegant an. Sie war eine
zwanzig Tonnen schwere Ballerina.
Die Herde bewegte sich schnaubend und kollernd fort. Die
Pflanzenfresser trompeteten gereizt, wenn die mächtigen
Körper sich gelegentlich berührten. Unterlegt wurden diese
Laute von den mechanischen Mahlgeräuschen der Diplo-Mägen.
Ein Mahlwerk aus Steinen rumorte in den mächtigen
Verdauungs-Apparaten und unterstützte das Zerkleinern der
Nahrung. Auf diese Art und Weise vermochte der Diplo-Magen
verschiedene minderwertige Futtersorten effizient zu verwerten, die
von dem kleinen Gebiss kaum gekaut wurden. Es hörte sich so an,
als ob schwere Maschinen am Werk seien.
Eskortiert wurde diese Parade von den ›Roadies‹ der
großen Pflanzenfresser. Insekten umschwirrten die Diplos und
ihre riesigen Kothaufen. Durch die Schwärme stieß eine
Vielfalt kleiner, Insekten fressender Pterosaurier. Ein paar
Pterosaurier ritten sogar auf den breiten Rücken der Diplos. Die
störte das aber nicht. Es gab sogar ein Paar plumper,
flügelschlagender Protovögel, die den Diplos zwischen den
Füßen herumliefen und gierig nach Larven, Fliegen und
Käfern schnappten. Und dann waren da noch die Fleisch fressenden
Dinosaurier, die ihrerseits die Jäger jagten. Lauscher erkannte
eine Schar junger Coelusaurier, die zwischen den säulenartigen
Beinen der Pflanzenfresser ihrer Beute nachstellten und in jedem
Moment den Tod durch einen achtlos gesetzten Fuß oder den
Peitschenhieb eines Schwanzes riskierten.
Es war eine riesige mobile Gemeinschaft, eine ganze Stadt, die
endlos durch den Weltenwald wanderte. Und es war eine Gemeinschaft,
von der Lauscher ein Teil war – in der sie ihr ganzes Leben
verbracht hatte und der sie bis zu ihrem Tod folgen würde.
Die Diplo-Matriarchin gelangte zu einem Ginkgo-Hain. Die
Bäume waren ziemlich hoch und trugen sattes grünes Laub.
Sie reckte den sehnigen Hals und nahm das Grünzeug in
Augenschein. Dann tauchte sie den Kopf ins Blattwerk und tat sich
daran gütlich, wobei sie die Blätter mit den stumpfen
Zähnen abriss. Die anderen Erwachsenen schlossen sich ihr an.
Die Tiere knickten die Bäume einfach ab, bissen in die
Stämme und rissen sogar die Wurzeln aus der Erde. Bald war das
Wäldchen gerodet; der Ginkgo würde Jahrzehnte brauchen, um
sich von diesem Besuch zu erholen. Solcherart prägten die Diplos
die Landschaft. Sie hinterließen einen Pfad der Verwüstung
und schlugen Schneisen aus grüner Savanne in eine von Wald
dominierte Welt. Weil die Herde die Vegetation restlos
zerstörte, musste sie immer weiter ziehen wie ein marodierendes
Heer.
Und dabei waren sie noch nicht einmal die größten
Pflanzenfresser – diese Ehre gebührte nämlich den
riesigen Brachiosauriern, die bis zu siebzig Tonnen schwer waren und
Bäume wie Streichhölzer knickten. Jedoch waren die
Brachiosaurier Einzelgänger und schlossen sich höchstens zu
kleinen Gruppen zusammen. Die aus bis zu hundert Tieren bestehenden
Diplo-Herden hatten das Land geprägt wie keine andere Spezies
vor oder nach ihnen.
Diese lose Herde war seit zehntausend Jahren zusammen und
seitdem immer nach Osten gewandert. Die Mitglieder wechselten zwar,
aber die Struktur blieb unverändert. Es gab allerdings auch
genug Platz für solch gewaltige Wanderungen.
Die Erde des Jura bestand aus einem einzigen, riesigen Kontinent:
Pangäa, was ›alles Land der Erde‹ bedeutete. Es war
eine mächtige Landmasse. Südamerika und Afrika waren noch
nicht getrennt und bildeten einen Teil der mächtigen
Gesteinsplattform. Ein riesiger Fluss entwässerte das Herz des
Superkontinents – Kongo und Amazonas waren ein einziger
gewaltiger Strom, der von Osten nach Westen verlief und unbehindert
durch die Anden, die sich erst viel später auffalteten, in den
Ozean mündete.
Der Zusammenschluss der Kontinente hatte eine große Welle
des Artensterbens ausgelöst. Das Verschwinden von Gebirgs- und
Meeresbarrieren hatte eine Vermischung von Pflanzen und Tieren
erzwungen. Nun erstreckte eine einheitliche Flora und Fauna sich
über ganz Pangäa – von Küste zu Küste, von
Pol zu Pol. Diese Einheitlichkeit hatte noch immer Bestand, obwohl
gewaltige tektonische Kräfte schon an der Aufspaltung der
riesigen Landmasse arbeiteten. Nur ein paar Arten hatten den
Zusammenschluss
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