Evolution
Flussbett. Eine große schlammige Flutwelle ergoss
sich in den Steinbruch. Das von der Erde rot gefärbte Wasser
toste in Strudeln um die Baumwurzeln.
Doch der Regen hörte auch so schnell wieder auf, wie er
begonnen hatte. Die Wolken stoben tiefer ins Innere des
Superkontinents. Nichts in Ultimas Erfahrungsschatz hatte sie auf
einen so sintflutartigen Regen vorbereitet. Doch der Baum verstand das Ereignis auf seine gemächliche pflanzliche
Art.
Während Ultima sich noch geschockt im Kokon in einer
embryonalen Haltung zusammenkrümmte, spürte sie, wie die
lederartige Haut um sie herum pulsierte. Am liebsten wäre sie
hier in der feuchten Dunkelheit geblieben, statt sich der
schrecklichen Wirklichkeit jenseits dieser Schutzhülle zu
stellen. Aber der Baum vermittelte ihr ein Gefühl des
Unbehagens und der Unruhe. Er wollte, dass sie ihn verließ und
sich an die Arbeit machte.
Sie setzte sich mit dem Rücken an die Wand des Kokons und
drückte dagegen. Die Blätter lösten sich mit einem
feuchten Schmatzen voneinander. Sie fiel vom Baum und landete
im Schlamm.
Überall um sie herum fielen die Leute vom Baum. Sie
machten ein paar versuchsweise Schritte auf den Knöcheln. Der
Schlamm fühlte sich seltsam an: Es war ein schweres, klebriges
rotes Zeug, das an Beinen, Füßen und Händen
haftete.
Die höllische Sonne kam wieder hervor, und der Schlamm
trocknete auch schon wieder. Das Wasser verdunstete, und der Boden
backte wieder fest zusammen. Doch für diese paar Minuten war der
Boden eine quirlige Arena von Geräuschen und Bewegung gewesen.
Mit wahrnehmbarer Geschwindigkeit wuchsen Ranken, Blätter und
sogar Blumen aus dem Schlamm. Sie waren Samen entsprossen, die
für ein Jahrhundert im Boden geschlummert hatten. Bald platzen
Samensäcke auf. Wie winziges Schrapnell wurden neue Samen in die
Luft geschossen. Ganze Fortpflanzungszyklen wurden in Minuten
abgeschlossen.
Insekten kamen aus ihren eingekapselten Verstecken hervor und
tanzten und paarten sich über den Tümpeln, die bald wieder
verdunsten sollten. Auf dem Erdboden tummelten sich noch mehr
Insekten wie Ameisen, Skorpione, Schaben, Käfer und ihre stark
abgewandelten Nachfolge-Spezies. Viele Ameisen waren Pflanzenfresser,
und Ultima sah, wie sie sich in Kolonnen zwischen den
erblühenden Pflanzen hin- und herbewegten und Baumaterial
für ihre Nester transportierten.
Und es gab unzählige kleine Echsen. Sie waren kaum zu sehen,
so gut war die Tarnung der rötlichen Haut im Sand. Sie
schwärmten zur Jagd aus. Bei ein paar erschöpfte die
Jagd-Strategie sich darin, sich mit offenen Mäulern neben den
Ameisen-Kolonnen zu postieren und darauf zu warten, dass ihnen ein
paar unvorsichtige Insekten in die Falle gingen.
Eine kleine, kompakte kaktusartige Pflanze, eine stachelbewehrte
Kugel mit lederartiger Haut, zog die oberen Wurzeln aus dem Boden und
koppelte sich von einem tief verzweigten Wurzelsystem ab. Auf
Wurzeln, die wie ungelenke Beine schwankten, wankte das Gewächs
aufs noch immer fließende Wasser zu. Dort angekommen sank die
Pflanze wie mit einem Seufzer in den Schlamm. Sofort lösten die
Hilfs-Wurzeln, die die Fortbewegung ermöglicht hatten, sich auf,
und neue Wurzeln bohrten sich in den feuchten Boden.
Überall taten die Leute sich an den plötzlich
aufgetauchten Pflanzen, Reptilien, Amphibien und Insekten
gütlich. Es waren hauptsächlich Erwachsene: Kinder waren
selten in diesen entbehrungsreichen Zeiten. Der Baum achtete
darauf.
Ultima, die noch nie zuvor ein Unwetter erlebt hatte, schaute sich
das alles fassungslos an.
Eine froschartige Kreatur brach aus dem Boden. Sie hüpfte und
stolperte zum nächsten schlammigen Tümpel und platschte
hinein. Dann lockte sie mit einem lauten Quaken die Weibchen an, die
sich ebenfalls aus der Erde stemmten. Bald war der Tümpel ein
Pfuhl sich paarender Amphibien. Ultima schnappte sich einen der
Frösche. Er war wie ein schleimiger Wasserbeutel. Sie steckte
ihn sich in den Mund. Kurz spürte sie seine Kälte und das
auf der Zunge hämmernde Herz, als sei er enttäuscht
darüber, dass das jahrhundertelange Warten im Kokon aus hartem
Schlamm nun ein so unrühmliches Ende nahm. Dann biss sie zu, und
köstliches Wasser und salziges Blut spritzte ihr in den
Mund.
Doch die Tümpel trockneten schon wieder aus, und das Wasser
verdunstete auf der zusammen gebackenen Erde. Aus dem Froschlaich
waren schon kleine Kaulquappen geschlüpft, und die schnell sich
entwickelnden Quappen fraßen Algen, kleine Krabben und
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