Evolution
keine Jaguare, Leoparden oder Tiger. Praktisch alle
Bewohner des Waldes waren kleine, auf Bäumen lebende
Säugetiere wie Plesi. Für eine außergewöhnlich
lange Zeit – für Jahrmillionen – würden die Tiere
noch an ihren Kreidezeit-Lebensgewohnheiten festhalten, und
wesentlich größer würde auch keine
Säugetier-Spezies werden. Sie begnügten sich noch immer mit
der Dunkelheit und den Nischen der leeren Welt, fingen Insekten und
enthielten sich aller evolutionären Neuerungen, die über
ein neues Gebiss hinausgingen.
Wie zu langen Haftstrafen verurteilte Gefängnisinsassen
wurden auch die Überlebenden institutionalisiert. Obwohl die
Dinosaurier längst verschwunden waren, fiel es den
Säugetieren schwer, Verhaltensweisen zu ändern, die sie
sich in hundertfünfzig Millionen Jahren als
›Underdogs‹ angewöhnt hatten.
Dennoch fanden Veränderungen statt.
Schließlich hörte Plesi das leise Winseln ihres
Babys.
Am Rand der Lichtung hatte Stark sich in einer Art Nest aus
bräunlich verfärbten Wedeln zusammengekauert. Nachdem er
vom Baum gefallen und auf die Lichtung gestürzt war, hatte er
wenigstens die Geistesgegenwart besessen, in Deckung zu gehen. In
Sicherheit war er deshalb aber noch lange nicht: Ein großer
rotbäuchiger Frosch beobachtete ihn mit einer gewissen Neugier
in den leeren Augen. Als er Plesi sah, machte Stark einen Satz und
rannte zu seiner Mutter. Er suchte nach Plesis Zitzen, doch Plesi
schnappte nach ihm und verweigerte ihm diesen Trost.
Plesi war zutiefst beunruhigt. Ein Carpolestid, der sich im Nest
zu behaupten vermochte, aber keinen Instinkt für den Baum hatte
– und der sich nicht einmal ruhig verhielt, wenn er exponiert
war –, hatte schlechte Überlebensaussichten. Plötzlich
wirkte Stark gar nicht mehr so stark. Plesi verspürte einen
seltsamen Impuls, sich einen Gefährten zu suchen und sich noch
einmal zu paaren. Doch fürs Erste biss sie Stark nur mit dem
kräftigen Schneidezahn in die Seite und ging zum Baum
zurück, von dem sie herabgestiegen war.
Aber sie hatte erst ein paar Körperlängen
zurückgelegt, als sie erstarrte.
Die ausdruckslosen Augen des Räubers fixierten Plesi mit
tödlicher Berechnung.
Der Räuber war ein Oxyclacnus. Er war ein schlankes Pelztier
mit vier Beinen. Mit dem langen Körper und den kräftigen
Beinen sah er aus wie ein zu groß geratenes Wiesel, obwohl Kopf
und Schnauze eher an einen Bären erinnerten. Aber er war weder
mit dem Wiesel noch mit dem Bären verwandt. Vielmehr handelte es
sich um einen Ungulaten, einen frühen Angehörigen der
großen Familie, die eines Tages behufte Säugetiere wie
Schweine, Elefanten, Pferde, Kamele und sogar die Wale und Delphine
umfassen würde.
Dieser Oxy wirkte plump, träge und sogar unfertig für
ein Auge, das an Leoparden und Wölfe gewöhnt war. Aber
diese Art hatte gelernt, sich durchs spärliche Unterholz des
endlosen Waldes an Beute anzupirschen. Er vermochte sogar zu klettern
und die Beute bis auf die unteren Äste der Bäume zu
verfolgen. In dieser urtümlichen Zeit hatte der Oxy kaum
Konkurrenz.
Und während er Plesi betrachtete, die sich furchtsam auf den
Boden gepresst hatte, wurde der Oxy von zwei pragmatischen Fragen
umgetrieben: Wie erwische ich dich? und Wie gut wirst du
mir schmecken?
Plesi lag flach auf dem Boden. Sie zitterte, die Schnurrhaare
zuckten, und die kleinen spitzen Zähne waren gebleckt. Aber sie
war mit Instinkten ausgestattet, die über hundert Millionen
Jahre zu Füßen der Saurier einen Feinschliff erfahren
hatten. Und sie führte eine nüchterne Neueinschätzung
des Risikos durch. Hier im Freien würde sie kein Versteck
finden. Es würde ihr nicht gelingen, sich auf einen Baum zu
flüchten und dem Zugriff des Oxys zu entziehen. Und wenn sie vor
ihm zu fliehen versuchte, würde er sie leicht mit einer dieser
schrecklichen Klauen aufspießen.
Sie hatte nur eine Möglichkeit.
Sie machte einen Buckel, riss den Mund auf und zischte so heftig,
dass sie den Oxy mit Speichel besprühte.
Der Oxy wich bei der unerwartet aggressiven Reaktion dieser
kleinen Kreatur zurück. Aber sie stellt doch keine Gefahr
dar. Der zornige Oxy fasste sich wieder und wollte es Plesi
heimzahlen.
Doch Plesi war schon im Unterholz verschwunden. Sie hatte nie
vorgehabt, den Oxy anzugreifen; es war ihr nur darum gegangen, Zeit
zu schinden. Und sie hatte Stark zurückgelassen.
Der junge Carpolestide presste sich unter dem geradezu
hypnotischen Blick des Fleischfressers auf den Boden. Der
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