Evolution
ungeeigneter
Möglichkeiten.
Viele Adapiden hatten sich zu sehr spezialisiert. Diese
behagliche, den Planeten umspannende Wärme würde nicht
für immer anhalten. In kühleren Zeiten in der Zukunft, als
die Wälder sich zurückzogen und jahreszeitliche
Unterschiede deutlicher hervortraten, war es unklug, bei der Suche
nach Nahrung allzu wählerisch zu sein. Die zwangsläufige
Folge waren wieder Massensterben.
Noth fand die Geschwister in dieser breit gestreuten Ansammlung
exotischer Primaten nicht.
Bei der Untersuchung des Waldbodens entdeckte er eine Pflanze mit
einer gekapselten Frucht – eine Art Erbse. Er brach ein paar
Schoten auf und gab sie seiner Schwester zu essen.
Eine Art Ameisenbär mit einer Länge von einem Meter
näherte sich einem säulenartigen Ameisenhügel. Er
stürzte sich auf das Nest und stemmte sich mit den
kräftigen Armen und Schultern dagegen. Wie bei einer Spitzhacke
war die ganze Kraft in einem Punkt konzentriert: in der Spitze des
gekrümmten Mittelfingers. Die Ameisen schwärmten aus –
sie waren riesig, bis zu zehn Zentimeter lang –, und der
Ameisenfresser verleibte sie sich mit der langen klebrigen Zunge ein,
ehe die Soldaten sich noch zur Verteidigung zu formieren vermochten.
Der Ameisenfresser war ein Nachkomme einer südamerikanischen
Art, die vor vielen Generationen über Landbrücken
eingewandert war.
Noth und Rechts sahen mit großen Augen zu. Während Noth
den Ameisenfresser beobachtete, wurde er im Unterbewusstsein jedoch
von Sorge geplagt.
Er war auf Nahrungssuche gegangen, damit die Schwänze
Winterfett ansetzten und sie den langen Winterschlaf
überstanden, der immer näher rückte. Er folgte damit
dem Befehl seiner inneren Programmierung. Aber sie bekamen nicht
genug Nahrung. Ohne die Unterstützung der Sippe musste er zu
viel Zeit damit verbringen, nach Räubern Ausschau zu halten.
Er hätte umzukehren vermocht. Wie die ganze Spezies –
und die mobilen Männchen mehr als die sesshaften Weibchen –
bestimmte er die Position durch nautisches Koppeln, die Integration
von Zeit, Raum und dem Winkel des einfallenden Sonnenlichts. Diese
Fähigkeit half ihm, Futter- und Wasserquellen zu finden. Im
Notfall hätte Noth nach Hause zurückzufinden vermocht, zu
der Baumgruppe, die der Ausgangspunkt der Aktivitäten seiner
Sippe war. Aber er vernahm nicht ihren unverwechselbaren
trällernden Gesang, sodass die rudimentären
Entscheidungsfindungs-Prozesse ihn dazu zwangen, nach einer anderen
Sippe zu suchen, die ihn und seine Schwester aufnahm.
Obwohl die Sonne noch immer ihre endlosen Kreise überm
Horizont zog, wurde das Tageslicht allmählich rot gefärbt,
und hier am Waldboden hafteten nun Sporen an den Farnwedeln. Der
Herbst nahte. Und dann würde der Winter kommen. Sie waren
unterernährt, und die Zeit lief ihnen davon.
Rechts versank wieder in Niedergeschlagenheit, wie es so oft
geschah. Sie ließ die Erbsenschoten fallen und krümmte
sich zusammen. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und
schaukelte mit leisem Klagen hin und her. Noth nahm sie in den Arm
und trug sie zu einer Astgabel, wo er sie kämmte. Vorsichtig
behandelte er das lichte Fell und beseitigte Schmutz, Reste von Laub
und getrockneten Kot, glättete verfilzte Fellpartien und
entfernte Parasiten, die sich an ihrer zarten Haut labten.
Rechts beruhigte sich schnell wieder. Das Kämmen war eine
Mischung aus Vergnügen, Zuwendung und leichtem Schmerz, wodurch
der Kreislauf mit Endorphinen geflutet wurde, den körpereigenen
Opiaten. Noch ehe sie viel älter geworden war, wäre sie
buchstäblich süchtig nach diesem angenehmen Kratzen –
wie ihr Bruder, der die massierenden Streicheleinheiten erwachsener
Finger auf dem Rücken schon schmerzlich vermisste.
Dennoch machte Noth sich Sorgen um sie, und zwar auf einer tiefen
Ebene, die er nicht verstand.
Rechts irritierender Kummer erfüllte einen Zweck. Damit
signalisierte sie sich selbst, dass sie einen Verlust erlitten hatte,
dass ein Loch in ihrer Welt klaffte, das sie ausfüllen musste.
Obwohl Noth zu echter Empathie nicht fähig war – wenn man
nicht wusste, dass andere Leute ein Bewusstsein, Gedanken und
Gefühle wie man selbst hatte, vermochte man unmöglich
Empathie zu verspüren –, lösten die Anzeichen des
Kummers bei seiner Schwester dennoch eine Art Beschützerinstinkt
bei ihm aus. Er wollte die Dinge für seine Schwester wieder ins
Lot bringen: Der Instinkt, dem Waisenkind zu helfen, ging sehr
tief.
Letztlich war zwanghafte Trauer
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