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Evolution

Evolution

Titel: Evolution Kostenlos Bücher Online Lesen
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jahreszeitlich
geprägte Waldland typisch war. Zu Streuners Zeit durchstreiften
bereits die ersten, mit Rüsseln und Stoßzähnen
ausgestatteten Proboscidea die afrikanischen Ebenen. Mit dem
Rüssel, dem an Flexibilität nur der Arm eines Tintenfischs
gleichkam, stopfte das Tier sich die großen Futtermengen ins
Maul, die es benötigte. Diese Deinotheria hatten kurze
Rüssel und seltsam nach unten gebogene Stoßzähne, mit
denen sie die Rinde von den Bäumen schälten. Im Gegensatz
zu ihrem Vorfahren, dem Moeritherium, sahen sie aber aus wie
Elefanten und wuchsen auch bald zur Größe der
späteren afrikanischen Elefanten heran.
    Und in dieser Zeit machten auch die Pferde einen großen
Sprung. Die Nachkommen der ängstlichen Geschöpfe in Noths
Wald hatten sich in viele Arten ausdifferenziert, die als
Pflanzenfresser im Waldland lebten. Sie waren zum Teil so groß
wie Gazellen und hatten kräftigere Zähne als ihre
Vorfahren, sodass sie nun auch Blätter und nicht mehr nur weiche
Früchte zu fressen vermochten. Eine andere Richtung waren Tiere
mit längeren Beinen, die sich auf Gras als Nahrung
spezialisierten. Die meisten Pferde hatten drei Zehen an Vorder- und
Hinterfüßen, wobei die in der Ebene lebenden Läufer
jedoch schon die seitlichen Zehen verloren und das ganze Gewicht auf
den mittleren Zeh verlagerten. Doch in dem Maß, wie der Wald
schrumpfte, verringerte sich auch seine Vielfalt, und bald
würden viele Wald-Spezies verschwinden. Die Nagetiere
diversifizierten sich mit dem Erscheinen der ersten Ziesel, Biber,
Haselmäuse, Hamster und Eichhörnchen – und den ersten
Ratten.
    Die Primaten profitierten nicht von den veränderten
Bedingungen. Ihr Lebensraum, die tropischen Wälder, war auf den
Bereich der heutigen Tropen geschrumpft. Viele Primaten-Familien
waren ausgestorben. Früchteesser wie Streuner harrten nur noch
in den Regenwäldern Afrikas und Südasiens aus und lebten
vom ganzjährigen Nahrungsangebot, das in diesen Wäldern
noch vorhanden war. Als Streuner geboren wurde, existierten keine
Primaten mehr nördlich der Tropen, und auf dem amerikanischen
Doppelkontinent gab es seit dem Erscheinen der Nagetiere
überhaupt keine mehr – keine einzige Art.
    Das sollte sich aber bald ändern.
     
    Das Meer um Streuner war eine stahlgraue Fläche, die mit der
Trägheit von Quecksilber Wellen schlug. Streuner war an einem
unbegreiflichen Ort, in einer elementaren zweidimensionalen Umwelt
mit groben Konturen, die statisch und zugleich mit einer
geheimnisvollen mahlstromartigen Bewegung erfüllt war. Der
Unterschied zum Wald hätte nicht größer sein
können.
    Nervös kletterte sie über das Pflanzen-Floß. Jeden
Moment rechnete sie damit, dass ein wilder Luft-Räuber ihr in
den Kopf biss. Und sie spürte, wie das Floß unter ihr sich
verwand, hörte, wie die lose verknüpften Bestandteile in
der trägen Dünung des Meers raschelten. Es hatte den
Anschein, dass das ganze Ding jeden Moment auseinander fiel.
    Es waren nur noch sechs Anthros übrig: drei Männchen,
zwei Weibchen – einschließlich Streuner – und das
Baby, das sich schläfrig ans Fell seiner Mutter klammerte. Das
waren die einzigen Überlebenden von Weißbluts Sippe.
    Die Anthros saßen auf einem Astgewirr und beäugten sich
gegenseitig. Es wurde Zeit, eine vorläufige Hierarchie zu
bilden.
    Für die beiden Weibchen waren die Prioritäten klar.
    Das eine Weibchen, die Mutter, war ein über zehn Jahre altes,
stämmiges Exemplar. Dieses Kind war ihr viertes, und - was sie
nicht wusste – ihr einziger überlebender Nachkomme. Ihr
auffälligstes Merkmal war ein kahler Fleck aus Narbengewebe an
einer Schulter, wo ein Waldbrand ihr das Fell versengt hatte. Das
Baby, das sich an Flecks Brust klammerte, war selbst für sein
Alter zu klein – es war ein winziges Fellknäuel. Fleck, die
Mutter, musterte Streuner abschätzig. Streuner war klein, jung
und eine Fremde, nicht einmal eine entfernte Verwandte. Also drehte
sie Streuner den Rücken zu und streichelte ihr Junges,
Knäuel.
    Streuner wusste, was sie zu tun hatte. Sie huschte über die
Äste zu Fleck, grub ihr die Finger ins noch nasse Fell und
glättete Verfilzungen und beseitigte Schmutzreste. Als sie
Flecks Haut berührte, spürte sie Verhärtungen in der
Muskulatur und traf Stellen, bei deren Berührung Fleck
zusammenzuckte.
    Bei der Massage durch Streuners kräftige Hände
entspannte Fleck sich langsam. Wie allen anderen hatte auch Fleck die
Vertreibung aus dem Wald und der Verlust der

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